Ergänzungen
- Deutsche Landjuden
- Jüdische Soldaten im ersten Weltkrieg
- Neo-Orthodoxie
- Rabbinerseminare
- Judenkarte
- Professoren im Widerstand
- Reichsvertretung der Juden in Deutschland
- Schulen
- Kindertransporte
- Gottesbild nach Auschwitz
- Mordecai Kaplan und der Rekonstruktionismus
- Die Zusammenarbeit zwischen Schwarzen und Juden in der Bürgerrechtsbewegung
- Joshua Liebman
- Was zählt im Judentum – Gott – Mitzwot
- Zerrbild des Juden, einige Worte zum Antisemitismus
- Christlicher und muslimischer Glaube – beide haben viel vom Judentum übernommen
Vor dem Krieg gab es hunderte kleiner Landgemeinden mit jeweils einigen dutzend bis zu (selten) mehreren hundert Mitgliedern über das ganze Reich verteilt. Die Landjuden siedelten in Bayern, Württemberg und Thüringen genauso wie im Rheinland und verfügten oft über eine gute jüdische Infrastruktur, wie Synagoge, Mikwe und koschere Schlachtmöglichkeiten. Viele von ihnen arbeiteten als Viehhändler, Weinhändler, Bauern oder Kaufleute. Mitte des 19. Jahrhunderts waren ein Fünftel der rund 740 Oberlauringer Bürger Juden. Im Lauf der Wende zum 20. Jahrhundert sahen immer mehr junge Juden bessere Aufstiegs- und Geschäftschancen in den Städten, so dass die Anzahl der jüdischen Dorfbewohner abnahm.
Die Gleichstellung der Juden in der Armee besteht oft nur auf dem Papier. Der Antisemitismus grassiert besonders unter den Offizieren, die sich teilweise mit nationalistischen und antisemitischen Gruppen zusammentun, um ihre Mär von der „Feigheit“ der jüdischen Kriegsteilnehmer publik zu machen. 1916 ordnet Kriegsminister Adolf Wild von Hohenborn die Judenzählung im Militär an, offiziell, um nachzuweisen, dass die Gerüchte über die Juden als Drückeberger unhaltbar seien. Viele Historiker gehen davon aus, dass die Gründe in Wirklichkeit auf antisemitischen Erwägungen beruhten, und dass die Erhebung die Anschuldigungen belegen sollen, Juden seien zum Dienst für ihr Vaterland nicht bereit. Doch das Ergebnis der Zählung bezeugt das Gegenteil, und die Regierung veröffentlicht die Zahlen nicht, was die Gerüchte und den Antisemitismus noch bestärkt. Insgesamt kämpften rund 100000 jüdische Soldaten auf deutscher Seite, mindestens 12000 Juden sind an der Front gefallen.
Jahrhunderte lang hatte in Deutschland die Orthodoxie geherrscht. In den Städten allerdings machen sich die Auswirkungen der Aufklärung und der offiziellen Gleichberechtigung der Juden auch in den Gemeinden bemerkbar. In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts führte Rabbiner Nathan Marcus Adler (15.1.1803 bis 21.1.1890) in Oldenburg die ersten Neuerungen in der Orthodoxie ein. Sie sollten bald von der Mehrheit der orthodoxen Rabbiner akzeptiert werden: Adler hatte neben seiner Rabbinerausbildung die Universität besucht und promoviert, er erneuerte das gesamte Synagogen-, Schul- und Kultussystem. Er verbesserte die geistige Erziehung für Mädchen, er gehörte zu den ersten Rabbinern, die auf Deutsch predigten und für die Regierung beteten. Er trug, wie die evangelischen Pfarrer, einen Talar mit Beffchen. Für diese, an die Neuzeit angepasste Form der Orthodoxie, die Neo-Orthodoxie, schuf sein Nachfolger Samson Raphael Hirsch (20.6.1808 bis 31.12.1888) das theologische Fundament. Auch Hirsch betonte die Verpflichtung der Juden, gute Landesbürger zu sein, offen für die weltliche Kultur und für Juden und Nichtjuden gleichermaßen da zu sein. Er predigte Deutsch und trug Talar. Doch in der Ausübung der Religion ist er strikt: So sind alle 613 Ge- und Verbote der Tora (Mitzwot) einzuhalten.
Vielen Juden waren die Neuerungen von Hirsch von der Orthodoxie hin zur Neo-Orthodoxie nicht weit genug gegangen. Abraham Geiger (22.5.1810 bis 23.10.1874) wurde zu einem Führer der Reformbewegung. Er sah in den Mitzwot Vorschriften, die jeder aus eigener Überzeugung einhalten kann und nicht aus einer auferlegten Pflicht heraus befolgen muss. Er trat für die völlige Gleichberechtigung der Frauen in Synagoge und Gemeindeleben ein.
Der Rabbiner Zacharias Frankel (30.9.1801 bis 13.2.1875) denkt ebenfalls modern, doch lehnt er überstürzte Reformen ab und will, dass sie sich in den Gemeinden organisch entwickeln. Die Tora sei dem Volk zur Weiterentwicklung gegeben. Er begründet das konservative Judentum.
Alle drei Richtungen gründen Rabbinerseminare. Zacharias Frankel wird erster Direktor des Jüdisch-Theologischen Seminars in Breslau (gegründet 1854), in dem die meisten liberalen Rabbiner ihre Ausbildung erhalten. Die Reformbewegung errichtet 1870 die Hochschule (später Lehranstalt) für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Nicht einmal einen Kilometer weiter gründet die Neo-Orthodoxie 1875 ihr Rabbinerseminar. Alle Ausbildungsstätten fühlen sich der Synthese von jüdischem Wissen und weltlicher Kultur verpflichtet.
Am 25. April 1933 wird das Gesetz „gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen“ verkündet, das es Juden erschweren soll, sich zu immatrikulieren. Von da an durfte der Prozentsatz der jüdischen Studenten nicht größer sein als ihr Anteil an der Bevölkerung in dem Staat, dem die Universität diente. Sie bekamen nun besondere Immatrikulationspapiere. Der Prozentsatz für „Nichtarier“ wurde auf 1,5 festgelegt, es durften nur so viele Studenten neu immatrikuliert werden, dass dieses Verhältnis so schnell wie möglich erreicht wurde. Viele Universitäten nahmen sie gar nicht mehr, weil ihr “Kontingent” ausgeschöpft war. Die nichtjüdischen Studenten in Berlin nahmen die Verordnung zum Anlass, die jüdischen Kommilitonen auszusperren oder ihnen die Studentenausweise wegzunehmen. Doch da ist Leo Trepp bereits in Würzburg, das die Quote der zugelassenen Juden noch nicht erreicht hat. Er muss sich mit der gelben Judenkarte einschreiben.
Am 15. April 1937 ordnet der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an, dass Juden zur Doktorprüfung nicht mehr zugelassen werden dürfen.
1937 tritt Hämel in die NSDAP ein. Besonders seine jüdischen Studenten werden nach dem Krieg vor der Entnazifizierungsstelle bestätigen, dass er sich äußerlich anpasste, um sie zu schützen. Nachdem er 1947 zunächst als „Mitläufer“ verurteilt wird, führen diese Aussagen 1948 zu seiner völligen Entlastung. Er stirbt als Rektor der Universität Erlangen.
Trepps Zweitprüfer, Karl Marbe (31.8.1869 bis 2.1.1953) war zunächst Mitarbeiter und stellvertretender Institutsleiter bei Oswald Külpe an der Universität Würzburg. Gemeinsam mit Külpe und anderen Wissenschaftlern entwickelten sie eine neue Richtung der Psychologie, die höhere geistige Prozesse, wie das Denken, das Urteilen und den Willen experimentell erforschte und die unter dem Begriff Würzburger Schule bekannt wurde. Ab 1909 befasste sich Marbe mit Fragen der angewandten Psychologie. Marbe, verheiratet mit einer Jüdin, verachtete die Hitler-Regierung. Im Geheimen arbeitete er an einem Buch, das die Methoden der Nationalsozialisten unter psychologischen Aspekten erforscht und das erst Jahrzehnte nach seinem Tod veröffentlicht wird.
Die Reichsvertretung der Juden in Deutschland wurde 1933 als „Reichsvertretung der deutschen Juden“ gegründet und musste sich nach den Nürnberger Rassegesetzen umbenennen. Vertreten von ihrem Vorsitzenden, Rabbiner Leo Baeck, sprach sie für die deutschen Juden. Sie war damit auch für die lebensnotwendige Verbindung zum Regime zuständig. Sie organisierte Leben und Auswanderungen und seit den Rassegesetzen ebenfalls Bildung und Erziehung. Ihr gehörten die Landesverbände und der Kulturbund wie fast alle anderen jüdischen Organisationen an. Mit Vermögen aus Erbschaften und vor allem Spenden aus dem Ausland konnte die Reichsvertretung sich lange Zeit über Wasser halten. 1939, zu dem Zeitpunkt umbenannt in ‚Reichsvereinigung der Juden in Deutschland’, wurde sie dem Reichssicherheitsamt unterstellt und musste sich auch an der Vorbereitung von Deportationen beteiligen, was zu schweren Gewissenskonflikten führte.
Seit den Nürnberger Rassegesetzen vom September 1935 hat Berlin gesonderte Schulen für die Juden vorgesehen. Noch konnte es sich Deutschland dem Ausland gegenüber nicht leisten, die jüdischen Kinder gar nicht mehr zu unterrichten und ihre Schulpflicht aufzuheben. Hitler wollte die Fassade aufrechterhalten. Die Welt sollte glauben, dass er die Juden zwar aus der deutschen Volksgemeinschaft ausschließen, ihnen aber ihr eigenes Kultur- und Erziehungssystem belassen wollte. Schon zwei Tage nach Erlass der Rassegesetze plante die Oldenburger Regierung „im Geheimen bereits die Errichtung jüdischer Rasseschulen“, wie Trepp später herausfindet. Der „rassenfremde jüdische Schüler“ bilde in der Klassengemeinschaft einen Fremdkörper, dessen Dasein „die notwendige, in der Rasse begründete Übereinstimmung zwischen Lehrer, Lehrstoff und Schüler unmöglich“ mache.
Über 50000 deutsche Juden wanderten während der NS-Zeit nach Großbritannien aus. Nach den Novemberpogromen in Deutschland begannen ab dem 2. Dezember 1938 die Kindertransporte auf die Insel. Mit Bahnen und Schiffen wurden deutsche und österreichische, später auch polnische und tschechische jüdische Jungen und Mädchen von Holland aus in Sicherheit gebracht. Über den britischen Hörfunk BBC suchten die Politiker, die das Vorhaben am 21. November gebilligt hatten und zum Teil privat unterstützten, nach Pflegefamilien. Nachdem die Aktion eigentlich schon beendet war, verließ am 14. Mai 1940 der letzte Frachter mit 60 Kindern den holländischen Hafen. Rabbiner Joseph Hertz (25.9.1872 bis 14.1.1946), der Oberrabbiner des britischen Königreichs, unterstützte die Haltung Winston Churchills gegen Deutschland. Er setzte sich für die Juden auf dem Kontinent ein, die unter nationalsozialistischer Bedrohung standen. Gegenüber den Kindertransporten war er aber ambivalent, solange dabei jüdische Kinder in nichtjüdische Familien gelangten. Dies war mehrheitlich der Fall. Die Kriterien besagten lediglich, dass die interessierten Familien sauber und sozial eingegliedert sein sollten. Jedes Kind benötigte zudem einen Sponsor, um dem britischen Staat finanziell nicht zur Last zu fallen. Die Hilfsorganisationen auf beiden Seiten arbeiteten fieberhaft, um vor allem die am stärksten gefährdeten Kinder wie Waisen oder solche, deren Eltern bereits im Konzentrationslager waren, aus Deutschland heraus zu bringen. Durch die Transporte wurden 10000 jüdische Kinder gerettet. Viele von ihnen verloren ihre Eltern und wurden britische Staatsbürger. Anderthalb Millionen Kinder wurden in der Shoah ermordet.
Es sei der Mensch, der die Fähigkeit habe zu sündigen und Böses zu tun, und die Freiheit, sich dafür oder dagegen zu entscheiden, schreibt Leo Trepp in seinem Buch ‚Die Juden’. Für ihn ist es Blasphemie, die Shoah theologisch erklären zu wollen. Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre setzt er sich mit Richard Rubenstein auseinander, der in seinem Buch „Nach Auschwitz“ verkündet, Gott sei tot. Den Anstoß zu Rubensteins Denken hatte eine Konversation mit dem Berliner Propst Heinrich Grüber im August 1961, eine Woche nach Mauerbau gegeben, der, obgleich er sich während der Shoah für die Juden eingesetzt und zahlreichen Christen, die aus jüdischen Familien kamen, das Leben rettete, die These vertritt, dass Gott die Juden mit Auschwitz für ihre Sünden gestraft habe. Die Deutschen seien Gottes Rute gewesen, weshalb sie aber nun selbst wieder durch den Bau der Mauer bestraft würden. Da Rubenstein keine Sünde auf der Seite der Juden erkennen kann, sie aber selbst verantwortlich für die Erschaffung dieses Narrativs seien – schließlich verträten ihr Rabbiner auch die Haltung, dass die Zerstörung des Tempels eine Strafe gewesen sei – bleibe den Juden nur, diesen Geschichtsgott aufzugeben und in Israel zur Naturreligion zurückzufinden. Das Diasporajudenum und dessen Lehre und Lehrer lehnt er in einem Brief an Trepp entschieden ab.
Rubenstein habe sich komplett vom jüdischen Denken entfernt, schreibt Trepp an einen Freund, man dürfe die Gefahr, die von seinem Denken ausgehe, aber nicht unterschätzen. Besonders junge Juden wüssten sowenig vom Judentum, dass sie Rubenstein und seine Thesen ernstnehmen könnten. Sein Freund, ein prominenter Rabbiner, dessen Schüler Rubenstein war, distanziert sich mit scharfen Worten von dem „jüdisch-theologischen Totengräber“, der die wirkliche Theologie der hebräischen Bibel nicht kenne. Moderne Juden interpretieren den Fall des Tempels und die Verbannung nach Babylon nicht als Strafe, sondern als Aufgabe, eine neue Gesellschaftordnung zu erlernen und etablieren, das Leben als Juden in der Diaspora nämlich mit gleichzeitiger Treue zur Tora wie zum neuen Land. Eine Strafe, schreibt Leo Trepp, könne es schon deshalb nicht sein, weil dann die Kinder „ihrer Väter Verfehlungen zu büßen“ hätten, was der Lehre der Tora widerspreche. Er selbst sieht die Opfer der Shoah in einer Reihe mit den tausenden und abertausenden von Juden, die ihr Leben über die Jahrhunderte geben mussten, weil sie Juden waren. Für einen Vortrag schreibt er:
Was bedeutet der Holocaust für mich? Ich habe mich schlicht mit einer der Slichot des Jom Kippur beschäftigt, dem Bericht über den Märtyrertod der zehn Rabbiner, die von den Römern unter Kaiser Hadrian hingerichtet wurden. Es tut nichts zur Sache, dass der Bericht einige historische Ungenauigkeiten aufweist. Geschrieben von einem mittelalterlichen Dichter, der die Auslöschung der Juden während der Kreuzzüge selbst erlebt hat, verbindet seine Chronik die Vergangenheit mit der Gegenwart.
Er öffnet mit den Worten: „Rabbiner Jishmael reinigte sich selbst und verkündete ehrfürchtig den Namen [Gottes], und fuhr auf in den Himmel und fragte den in Leinen gewickelten Mann [Engel]. Dieser antwortete ihm: ‚Nehmt es auf euch, ihr Zaddikim (Gerechten) und Geliebten, denn ich habe von hinter dem Vorhang gehört, dass dies der Weg ist, auf dem ihr scheiden werdet […]“. Für den Schreiber wie für den Leser gibt es keinen Zweifel daran, dass Gott der lebendige Gott ist, sein Schweigen wird nicht hinterfragt, nur das Rätsel über sein Urteil bleibt und, als Reaktion, der Gehorsam in der Heiligung Seines Namens. Es gibt keine Schuld, sie sind Gottes geliebte Kinder. Ich muss aus existenzieller Notwendigkeit heraus annehmen, dass Gott lebt, und dass göttliche Fügung auf einem Plan ruhte und ruht, den wir als Menschen unfähig sind zu erkennen. Die Worte der Slichot haben darauf Antwort gegeben.
Gottes Existenz steht für Leo Trepp nie in Frage. „Das Bewusstsein des Daseins Gottes entsteht im Juden durch die Vermittlung der Tora”, schreibt er in „Die Juden“ und erzählt von dem großen Denker Emmanuel Levinas, der die letzten Stunden eines polnischen Juden schildert, der bereits seine ganze Familie verloren hat und im Warschauer Ghetto erkennt, dass, auch wenn Gott sich verbirgt, seine Tora weiterhin da ist und dass sie weiterleben muss, um der Welt willen. Sein eigenes Verhältnis zu Gott ist sein Leben lang geprägt von der Nacht in Sachsenhausen, in der er seinen Tod erwartete und die Gegenwart Gottes erfuhr.
Er schreibt: “Seit diesem Tag werde ich Gott niemals verleugnen oder vom Tod Gottes sprechen können. Ich wusste, dass Gott genau dort war. Er selbst war in dem Lager, ertrug freiwillig Gefangenschaft und Folter. Er war dort. Er lebt. Gott ist für mich die ultimative Grundlage meines Lebens und Quelle meiner Werte.”
Mordecai Kaplan ist bis heute wichtig im jüdischen Leben der Vereinigten Staaten, weil seine Ideen nicht nur den Rekonstruktionismus begründet, sondern auch die anderen Strömungen im Judentum beeinflusst haben. Kaplan, der 1881 geboren und orthodox erzogen wurde, wollte zunächst die Orthodoxie selbst modernisieren. Doch schon bald entwickelte er sich weiter, was ihm seine Mitbegründer der modernen Orthodoxie, und auch die Bewegung selbst nie verziehen haben. Seine Ideen können radikal genannt werden, zumindest ändern sie die Wahrnehmung des Judentums als Religion. Er glaubt, dass die Juden, verstreut über die ganze Welt, verbunden sind durch eine gemeinsame Zivilisation, durch eine Geschichte, die sie teilen, und durch die Aufgabe, ethisches Denken, das ihnen durch Gott aufgegeben wurde, in Handeln umzusetzen und in der Welt zu verbreiten. In dieser Aufgabe und Verpflichtung sieht er im Übrigen auch die Auserwähltheit des Jüdischen Volkes. Ansonsten kann er mit dem Begriff wenig anfangen. Die Diskussion darüber führen er und Leo Trepp häufig. Gott versteht Kaplan nicht als übergeordnetes Wesen, sondern als die treibende Kraft, die aus dem Chaos der Welt eine Ordnung errichtet. Dennoch hält er das Gebet für notwendig, weil der Einzelne darin einen psychischen Halt finden, und weil es auf persönlicher Ebene helfen kann, das Seelenheil zu finden, und weil es Kraft geben kann, zwischenmenschliche Beziehungen besser zu gestalten.
Wenn auch zwanzig Jahre später Dreiviertel der Anwälte für die schwarzen Bürgerrechtler Juden sein werden – in den vierziger und fünfziger Jahren nehmen auch die meisten Juden im Süden der USA die Diskriminierung der Schwarzen als gegeben hin. Zumindest protestieren sie nicht dagegen, auch wenn privat Vorbehalte geäußert werden mögen. Die jüdische Gemeinschaft selbst steht in diesen Jahren extrem unter Druck. Antisemitismus ist weit verbreitet, und viele versuchen, irgendwie in die Mehrheitsgesellschaft hineinzupassen. Die Beziehung ändert sich in den sechziger Jahren. Die größte Unterstützung für die Schwarzen in ihrem Kampf für gleiche Bürgerrechte kommt von Juden. Mehr als die Hälfte der Anwälte sind jüdisch, wie auch die Mehrheit der weißen sogenannten Freiheitsfahrer (Freedom Riders), die Menschen, die nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofs, dass die Rassentrennung in Bussen gegen die Verfassung verstoße, die neuen Regeln durchsetzen wollten. Und fast zwei Drittel der weißen Studenten, die in den Sechzigern schwarze Wähler im Süden registrierten, waren Juden. Das Verhältnis änderte sich erneut in den siebziger und achtziger Jahren, als Juden erstaunt und erschreckt feststellten, dass sich in der schwarzen Gemeinschaft ein starker Antisemitismus entwickelt hat.
Joshua Loth Liebman wurde berühmt für sein Buch „Peace of Mind’ das sich über ein Jahr auf der Bestsellerliste der New York Times hielt. In ihm zeigt er, dass Religion und Psychologie zusammenarbeiten können, um innere Konflikte der Menschen zu lösen. Er war darin Franz Rosenzweig nicht unähnlich, dessen Buch ‚Stern der Erlösung’ er für eine gute Hilfe für alle Menschen hielt, auch wenn es sich auf jüdische Lehre und Tradition bezog. Liebman bestätigt, dass im Endeffekt nur Liebe in der Lage ist, die menschliche Seele wirklich ruhig werden zu lassen und zu heilen, und er beschäftigt sich mit der Gefahr, die darin liegt, dass viele Personen eigentlich hassen, sich aber selbst vormachen, es sei Liebe, die sich in ihrem Verhalten spiegele. Liebman ist überzeugt, dass die jüdische Ethik ein wichtiger Leitfaden für Alle werden könne, wenn es um existentielle Fragen wie zum Beispiel den Tod gehe.
Gott kann für die Juden begrifflich nicht erfasst werden, was für Leo Trepp unwesentlich ist. Juden folgten dem lebendigen Gott durch die Einhaltung der Mitzwot. Von den insgesamt sechshundertdreizehn rufen zweihundertachtundvierzig zum aktiven Handeln auf, diese Zahl entspreche den Teilen des menschlichen Körpers, was die Wichtigkeit des aktiven Einsatzes unterstreiche. Es seien die Mitzwot als Grundlage des sozial gerechten Handelns, die den Juden zu Gott führen. Das Judentum sei weniger Glaubensbekenntnis als Leben vor Gott, sagt Trepp. Doch wenn es auch stimme, dass für die Rabbiner das richtige, das ethische Handeln so wichtig, dass sie Gott im Talmud die Worte in den Mund legten, „Stünden sie vor der Wahl, mich zu vergessen, um meine Mitzwot einzuhalten, so sollen sie lieber mich vergessen, um meine Mitzwot zu befolgen“, so sei es eben doch keine Werkgerechtigkeit, schreibt er 1969, denn Gott bleibe der Grund aller Gebote der Tora. Die Verbindung zwischen Mitzwa und Tora ist also essentiell. Das Lernen der Tora selbst ist laut Trepp eine Mitzwa, die letztendlich zu Gott führt. „Gott und Mitzwot sind so unauflöslich verbunden wie Ruf und Antwort. Wer antwortet, wird des Rufers bewusst. Wer sein Dasein auf Gottes Mitzwot gründet, dem wird Gottes lebendiges Dasein offenbar“, schreibt er. Nicht nur fehlt ohne diese Verbindung die Grundlage für die Mitzwot – sie werden damit unverbindlich.
Link zu dem Essay über seine Auseinandersetzung mit Kaplan, wie die Mitzwot zu beurteilen seien!
Seit frühester Zeit sahen Nichtjuden das Judentum und die Menschen, die es praktizieren, als fremd und anders und damit oft gleichzeitig als minderwertig an. Schon die Griechen und Römer verurteilten die Weigerung der Juden, deren Götter zu akzeptieren und von ihren Vorschriften wie Beschneidung oder koschere Speisen abzuweichen. Eine sehr viel stärkere, hasserfüllte Ablehnung kam mit dem Christentum auf die Welt, das sich vom Judentum distanzieren und seine Glaubenspraxis als einzig Wahre etablieren wollte. Somit war dieser Judenhass zunächst einmal ein Antijudaismus. Eine Haltung, die nicht wahrhaben wollte, dass die christliche Religion ihre sozialethischen Vorstellungen vom Judentum übernommen hatte – immerhin war Jesus praktizierender Jude. Vor allem aber werfen die Christen den Juden vor, Jesus ans Kreuz geliefert und damit getötet zu haben. Sie sehen sie also als „Christusmörder“ an, was zeitweise zu grausamer Verfolgung führt. Über die Jahrhunderte versuchen Christen immer wieder, die Juden zur Taufe zu zwingen und ermorden sie, wenn sie es nicht tun. Besonders in den Kreuzzügen töten viele Juden sich selbst. Durchweg wird die jüdische Religion als das ‚Alte’ und somit ‚Überkommene’ angesehen, während das Christentum das Neue und nun allein Geltende ist. Ende des neunzehnten Jahrhunderts findet Wilhelm Marr für den mittlerweile etablierten Judenhass ein neues Wort – Antisemitismus. In dieser Zeit enden viele Bewegungen oder Theorien, über die diskutiert wird, auf ‚-ismus’, wie der Kommunismus oder Sozialismus. Wie der Forscher Dan Michman ausführt, will Marr also bewusst suggerieren, dass es hier um etwas wissenschaftlich Relevantes geht. So versuchte er, primitivem Judenhass ein intellektuell und wissenschaftlich anmutendes Fundament und damit breitere Legitimität zu verschaffen. Er führte den Gedanken des Rassenantisemitismus‘ ein, den die nationalsozialistische Bewegung aufgriff. Danach unterscheiden sich die Juden von Nichtjuden nicht durch Religion oder Kultur, sondern unterscheiden sich als minderwertige Rasse von anderen Rassen, die höherwertig einzustufen seien. Arier standen auf dieser Liste ganz oben. Selbst nach der Schoah hat sich das Bild der Juden als den „Anderen“ in vielen Köpfen gehalten. Und von Vorstellungen des alten Antijudaismus, der mühelos zum Antisemitismus wurde, haben sich viele ebenfalls noch nicht gelöst. Den ‚strafenden Gott’ des Alten Testaments zum Beispiel, das für die Juden die Hebräische Bibel ist, führen viele immer noch im Mund, und viele Nichtjuden können nicht akzeptieren, dass Juden an Gebräuchen wie der Beschneidung oder den Kaschrut, den Speisevorschriften, festhalten. Auch nach über 2000 Jahren ist der Antisemitismus in vielen Köpfen lebendig und in der Gesellschaft präsent.
Beide Nachfolgereligionen des Judentums, sowohl das Christentum wie auch der Islam, haben Elemente des Judentums übernommen. Beide sahen sich ursprünglich als weiterführende Religionen an, die das Judentum ablösen sollen. Heute setzen sich Vertreter aller drei monotheistischen Religionen mit dem Gedanken auseinander, dass sie miteinander und nicht gegeneinander arbeiten sollten. Im Zentrum steht dabei oft der Urvater der Juden, Abraham, den die beiden anderen Kulturen in der einen oder anderen Weise ebenfalls anerkennen und verehren. So werden Judentum, Christentum und Islam auch die drei ‚abrahamitischen Religionen‘ genannt. Für die Juden ist Abraham der Begründer des ethischen Monotheismus. Mit ihnen schließt Gott einen Bund. Daher stammt der Begriff ‚das auserwählte Volk‘. Um sich dieses Bundes zu vergewissern, werden männliche Nachkommen noch Jahrtausende später am achten Tag nach der Geburt beschnitten. Sehr früh haben Juden ihre ‚Auserwähltheit‘ als Verpflichtung gesehen, gegen Ungerechtigkeit und für ein soziales und ethisches Miteinander einzutreten und damit allen Menschen wahre Mitmenschen zu sein. Die Christen glauben nicht nur, dass Jesus der Messias ist, sondern ein Nachfahre Abrahams und König Davids. Jesus selbst spricht laut dem Neuen Testament über Abraham, indem er seinen Jüngern sagt, dass sie sich auf ihn nicht nur als Vater berufen, sondern auch seine Werte vertreten sollen. Die Muslime verehren Abraham als Propheten. Für sie ist er der Stammvater, durch den andere Propheten in die Welt gekommen sind, unter ihnen Jesus und der Begründer des Islam, Mohammed. Der Koran erwähnt Abraham in anerkennende und liebende Weise als Patriarchen und Imam. Gemäß dem muslimischen Glauben hat er die Grundmauern für die Kaaba in Mekka errichtet, das wichtigste Heiligtum im Glauben der Muslime, zu dem sie einmal in ihrem Leben eine Pilgerreise gemacht haben sollten. Durch Ishmael, den ersten Sohn Abrahams mit seiner Nebenfrau Hagar, den die Muslime als Vorfahren von Mohammed sehen, und seinen zweitgeborenen Halbbruder Isaak, Saras Sohn, der eine zentrale Rolle im Judentum spielt, werden Juden und Muslime manchmal Cousins genannt.