Das Judentum und die Künste
Martin Buber hielt einst fest, dass der Jude von Natur aus eher „motorisch” als „sensorisch” sei. Sein motorisches System funktioniert intensiver als seine Sinne. Er hat einen hochentwickelten Sinn für die Zeit; Musik, die „Kunst in der Zeit“ steht über Malerei oder Bildhauerei, den „Künsten im Raum“. Sein Bewegungsapparat ist auf kreative Aktionen ausgerichtet, seine Kunst ist daher reich an Gesten.
Kunst ist der Ausdruck des gemeinsamen Ziels des jüdischen Volkes, sie symbolisiert es, und zeigt den Weg zur Zielerfüllung auf. Dieses Ziel ist dreifaltig: „Zukunft– Handeln– Einheit.“ Die Zukunft wird durch Handeln errichtet; die Zukunft wird durch das Erreichen der Einheit gesehen– zwischen Mensch und Gott, Mensch und Mensch, dem Menschen und sich selbst, seinem eigenen Ich. Sie stellt die ewige Herausforderung dar, diese Einheit der Zukunft, durch Handeln wird sie angegangen.
Bubers Meinung ist anfällig für Kritik, kann aber als Schlüssel für unsere Überlegungen dienen. Ein sehr bemerkenswerter Aspekt sticht hervor. Jüdische Kunst kann nicht von jüdischer Pflicht getrennt werden. Das jüdische Leben und die jüdische Zivilisation sind religiös, von Gott durchdrungen, keine Facette des Lebens kann davon ausgeschlossen werden, und erst recht die Kunst kann nicht davon ausgeschlossen werden. Sie kann weder reine Flucht sein, so wie manche Form der Fiktion es ermöglicht, noch kann sie dem Geiste des Judentums zuwiderlaufen. Tatsächlich sollte der Wert eines Kunstwerkes daran gemessen werden, welchen Beitrag es zur Erreichung der jüdischen Ideale leistet. Es gibt keine „neutrale“ Kunst, keine Kunst um der Kunst willen. Es gibt auch keine bloße „Betrachter-Kunst“, jüdische Kunst ist partizipativ.
Literatur, Theater, Musik und Tanz wurden als legitime Mittel angesehen, jüdische Ideen und Ideale auszudrücken und zu vermitteln. Dieser multi-mediale Ansatz wird heute durch den Einfluss der Ideen McLuhans betont, und seit Jahren im Judentum praktiziert. Wir brauchen nur an die Lektüre des Talmuds in den Jeschiwot zu denken: das geschriebene Wort auf der Seite wurde verwandelt in das Wort der mündlichen Kommunikation; das gesprochene Wort wurde „gesungen“, es wurde von körperlichen Bewegungen begleitet, wenn man so will, war es eine körperliche Erweiterung des Wortes. Man erkannte die Macht dieses Mediums, und passte nun auf den Inhalt auf. Das Medium konnte die Botschaft vermitteln, durfte sie aber nicht entstellen. Das Theater, wie es die Griechen hatten, gibt es im antiken Judentum nicht. Die Rabbiner verboten sogar Besuche von griechischen Dramen, von Zirkusvorstellungen und ähnlichen Unterhaltungen. Sie zitierten den ersten Psalm: „Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen noch tritt auf den Weg der Sünder“. Für sie bezieht es sich auf die, die sich von den Theatern und Orten ähnlicher Vergnügungen fernhalten, da solche Besuche sicherlich zum Verderben führten (Aboda Sarah 18b). Ein Jude solle nicht gehen, noch nicht einmal nur „um mal vorbeizugehen“, da ihn das dazu veranlassen könnte, „herumzustehen“, und letzten Endes könne er sich vielleicht doch hinsetzen und am Spektakel teilnehmen. Er solle diese Plätze niemals betreten, außer wenn die Wohlfahrt der Gemeinde es verlange (Sabbat 150a). Diese Art der Unterhaltung könne einen Juden leicht vom rechten Wege abbringen, dabei müsse er sich seiner Verpflichtung bewusst sein. „Wenn die Heiden Feste feiern, so essen und trinken sie, besuchen dann Theater und Zirkus, und provozieren Gott – während Israel an seinen eigenen Festen isst und trinkt und sich freut, aber dann in die Synagogen und Lehrhäuser geht und viel betet (Yalkut Shimoni: Pinchas 29). Der Jude müsse den Willen haben, der Versuchung zu widerstehen. „Die Empfindungen, die Augen, Ohren und Nase des Mannes haben, sind nicht notwendigerweise seine Wahl, sie können ihm aufgedrängt sein, er kann ihnen nicht entfliehen. Das Handeln seines Mundes aber, seiner Hand und seines Fußes sind seinem Willen untertan: er kann die Worte der Tora sprechen oder böse Worte; er kann seine Hände benutzen, um Tzedaka zu verteilen oder sich am Diebstahl beteiligen, und er kann seine Füße bewegen, um entweder in die Synagoge oder ins Theater oder in den Zirkus zu gehen.“ (Bereschit Rabbah 67)
Allem voran wurde der Theaterbesuch als Zeitverschwendung angesehen; das Studieren der Tora konnte dieser Zeit Bedeutung verleihen. Darüber hinaus war das griechische Drama eine Provokation Gottes. Die griechischen Götter auf der Bühne als reale Persönlichkeiten darzustellen und Götzenanbetung zu zeigen, widersprach den grundlegenden jüdischen Geboten. Des Weiteren repräsentierte es eine soziale und individuelle Moral, die in jüdischen Augen schlicht unmoralisch war und der jüdischen Ethik zuwiderlief. Wir können hinzufügen, dass diese Form des Theaters, unabhängig von ihrem Inhalt, dem jüdischen Gedankengut fremd war. „Katharsis“ im Judentum, sofern Buber recht hat, ist das Resultat aktiver Partizipation.
Hinzu kam, dass Zirkusse oft Karikaturen von Juden darstellten und sich über jüdische Traditionen und die jüdische Lebensart lustig machten (Ekha Rabba 3). Die jüdische Selbstachtung verbat die Teilnahme, selbst als Zuschauer. Dennoch finden wir dramatische Elemente im antiken Judentum. Der Lesung der Tora selbst wurde ein dramatischer Charakter verliehen, da jede Person, die daraus vorlas, eine eigene Passage rezitierte – so wie es heute während der Bar Mitzwa geschieht. Nur die wachsende Unwissenheit führte zur Ernennung eines Vorlesers. Die Beteiligung der Gemeinde ist in Synagogen geblieben, wo Individuen aufgerufen werden. Der Stil der Schriften, in vielen ihrer Teile, deutet wechselseitiges Lesen an, wie wir es zum Beispiel im Parallelismus der Psalmen oder in anderen Werken finden. Die Psalmen, wie beispielsweise der Psalm 24, bieten ein großartiges Beispiel für den Prunk, der den göttlichen Lobpreis umgibt.
Das Buch des Hiob kann als eine Art „Platonischer Dialog“ betrachtet werden, aber es ist auch ein Drama. Dichter haben es adaptiert und es in gewöhnliche Bühnenstücke verwandelt. Wir erinnern uns an Goethes Faust. Der „Prolog im Himmel“ basiert direkt auf dem Buch Hiob. Archibald MacLeishs „J.B.” ist ein hervorragendes zeitgenössisches Beispiel. Goethe benutzte dramatische Elemente aus dem Buch Esther für ein charmantes, allerdings nicht vollendetes, Purim Spiel.
Der Lobpreis im Tempel war dramatisch, er bezog die Menschen ein und vereinte sie in der Aufgabe, die Zukunft aufzubauen. Der Lobpreis des Jom Kippur bietet ein herausragendes Beispiel. Er begann mit der feierlichen Prozession zum Tempel, in der Priester, andere Führungspersönlichkeiten und die Vertreter des Volkes den Hohepriester durch die Stadt Jerusalem begleiteten. Am Tempel entfaltete das Ritual dramatische Spannung mit verschiedenen Höhepunkten, die sich von Mal zu Mal steigerten – wenn zum Beispiel der Hohepriester den Namen Gottes ausrief und sich das ganze Volk niederwarf, oder wenn die Menge in erwartungsvoller Spannung darauf wartete, dass der Hohepriester von dem Heiligsten des Heiligen zurückkehre, wo er als Bote des jüdischen Volkes den Akt der Reue vollzogen und die Bitte um Vergebung vorgetragen hatte. Und schließlich – die „Katharsis“ im jubelnden Bewusstsein, dass die Sünden vergeben waren.
Zum Höhepunkt am letzten Tag des Sukkotfestes gab es Freude und Jubel. Die Nacht wurde zum Tag, Rabbiner führten Akrobatik vor, Musik erfüllte den Tempel und die Stadt – aber nie vergaß man, Anstand zu wahren. Wenn die Sonne aufging, verkündeten Trompeten die frühen Sonnenstrahlen, und bald füllten Prozessionen und damit freudiger und prachtvoller Dank für das Geschenk des Wassers den Rest des Tages. Die Ideale des Judentums und seine Ziele wurden niemals vergessen, die Menschen brachten sich in jeder Weise ein.
Der Sinn für das Dramatische war so weit entwickelt, dass selbst unbelebte Wesen eine Stimme im Lobpreis Gottes erhielten: „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes… Da ist keine Sprache“, erinnert sich der Autor für einen Moment, und fährt mit einer anderen Metapher fort: „Die Sonne ist wie ein Bräutigam aus seiner Kammer und freut sich wie ein Held zu laufen den Weg (Psalm 19,5). Später adressiert Judah Halevi Zion als „Du“: „Zion, fragtest du nicht nach dem Frieden für deine Gefangenen, die deinen Frieden suchen?“ Die Nutzung biblischer Geschichten als Quellen für Oratorien (Händel, Mendelsohn, etc.) zeigt deren dramatischen Charakter, der spirituell ist, zwar nicht für die Bühnenvorführung ausreicht, aber die Menschen involviert, nämlich als Chor. Jüdische Literatur ist den gleichen Kriterien wie das Theater unterworfen. Es gibt keine rein freizeittaugliche Form der Fiktion im Judentum, in die man fliehen könnte. Aber die biblischen Geschichten selbst zeigen, dass viele der Autoren sehr genau wussten, wie man eine gute Handlung erkennt und sie dramatisch verarbeitet. Es ist schwierig, eine Geschichte zu finden, die so voller Abenteuer, Überraschungen, Charakterentwicklung – und Sex – ist wie die Josephs. Sie inspirierte Thomas Mann zu seinem gigantischen Werk: die Joseph-Geschichten. Aber die Geschichte zeigt gleichermaßen die Besorgnis um die wesentlichen Ideale des Judentums: Handeln – Zukunft – Einheit. Die Rabbiner erhöhten die Spannung, indem sie die wöchentlichen Lesungen gerade in den Momenten beendeten, wenn das Interesse auf dem Höhepunkt war: „Fortsetzung folgt“.
Ruth ist eine wundervolle lyrische Pastorale, und ebenfalls abgestimmt auf die Ideale des Judentums. Samson ist der Paul Bunyan, der grobschlächtige Holzfäller der Heiligen Schrift, Esther eine Geschichte der Intrige. Das Lied der Lieder ist ein glühendes Liebeslied, und doch nennt Rabbi Akiba es das heiligste Buch im Tanach. Wir finden wirklich jede Gattung der Literatur im Tanach. Der Midrasch fügt Geschichten, Parabeln, Anekdoten, sogar große Fabeln und Humor hinzu. Letztlich bleibt alles gottzentriert und dem jüdischen Lebenskonzept treu: Handeln – Einheit– Zukunft.
Tanzen findet man ebenfalls in der Geschichte wieder. Der Wert hängt von den Umständen und der Absicht ab. Während der Tanz um das goldene Kalb eine tödliche Sünde war, ist Davids Tanz vor der Bundeslade Lobpreis in reinster Form, und Michal, Davids Ehefrau, wird zurechtgewiesen, weil sie ihn tadelt, seine „Würde“ verloren zu haben. Zur Zeit des ersten und zweiten Tempels finden wir Jugendliche, die am Jom Kippur zu Tanz und Gesang in die Weinberge ziehen (genauso wie am 15. Av), und zur gleichen Zeit ihre Partner finden (Taanit 26 und 31). Tanzen bleibt ein bevorzugter Zeitvertreib der Juden, selbst in den dunklen Tagen des Mittelalters. Das ehemalige „Judentanzhaus“ in Rothenburg, das ursprünglich schon vor dem Pogrom in der Stadt in 1298 als einer der Tanzsäle speziell für Juden errichtet worden war, wurde nach dem Krieg wiederaufgebaut.
Selbst später, als Tanz und Lobpreis getrennt worden waren – außer am Simchat Tora – bleiben kinästhetische Elemente erhalten: die Verbeugungen in der Amida, der Kniefall am Jom Kippur, die Tora-Prozessionen, die Prozessionen mit dem Lulaw. Bei der Keduscha stellen sich die Menschen auf die Zehen, und rezitieren „heilig, heilig, heilig“, bringen sich in Einheit mit Gott und dem Himmel. Eine Aktion, die die Zukunft erbaut. Beim Segnen des Neuen Mondes reckt sich der Jude ähnlich auf die Zehen, und drückt die Hoffnung aus, dass „meine Feinde mich nicht einholen mögen“, selbst wenn er den Mond nicht erreichen würde, und das Vertrauen, dass „David, König Israels, lebt und bleibt“. Der Chassidismus wieder-belebte den Tanz als Ausdruck des Lobpreises – und legte dabei großen Wert auf den Anstand.
Während wir uns mit der Epoche der Antike beschäftigt haben, sind uns einige allgemeine Gegebenheiten der jüdischen Geschichte begegnet: ein multi-medialer Ansatz ist gerechtfertigt, aber wir sollten aufpassen, dass das Medium nicht die jüdische Botschaft zerstört; die sogenannte „religiöse Erfahrung“ kann eine nichtjüdische sein, und es mag darüber hinaus nicht einmal eine wirklich religiöse Erfahrung sein. Während wir damit experimentieren, müssen wird das im Auge behalten. Die Beteiligung der Gemeinde ist essentiell. Der moderne jüdische Gottesdienst hat diesen Ansatz beinahe vollkommen aufgegeben, zu seinem großen Nachteil. Er muss zurückgebracht werden. Gottesdienste sind momentan nicht-partizipativ, ein Ansatz, den man von anderen Religionen übernahm und der sich als ungesund erwiesen hat.
Während wir mit neuen Formen experimentieren, sollten wir uns an die breite Vielfalt bereits bestehender dramatischer und körperlicher Ausdrucksformen erinnern, sowie der zahlreichen schon vorhandenen Möglichkeiten, Gemeinde aktiv einzubeziehen. Wir haben einen großen Reichtum in den verschiedenen Traditionen innerhalb des jüdischen Volkes, sowohl für öffentliche Gottesdienste wie auch für die private Feier: in der aschkenasischen und der sephardischen Tradition, wie auch in der chassidischen und jemenitischen und der Tradition der Mizrachim. Die verschiedenen Ansätze könnten gesammelt werden und genutzt dafür, den jüdischen Geist im Gottesdienst wie in anderen Aktivitäten auszudrücken.
Diese Praktiken sind durch die Zeit geheiligt worden, sie sind durch die Praxis geprüft und abgestimmt auf die Ziele des Judentums. Sie schaffen Beteiligung, und indem wir sie praktizieren, bezeugen wir die Einheit des jüdischen Volkes. Grundsätzlich ruft das Judentum nach Entwicklung, es unterstützt und heiligt die Ausdrucksmittel, die den religiösen und ethischen Standards des Judentums gerecht werden und gleichzeitig beitragen, alle aktiv zu beteiligen, um die Zukunft im Sinne jüdischer Ideale zu gestalten.