Über das deutsche Judentum

von Leo Trepp

 

Das deutsche Judentum ist tot. Und wenn Historiker die Bilanz der letzten 2000 Jahre und mehr erstellen werden, um zu einem Urteil der Geschichte zu kommen, werden sie entdecken, dass die letzten beiden Jahrhunderte voller Gegensätze stecken. Es war die Zeit des Wandels für die deutschen Juden, die sich nach dem Verlassen des Ghettos der schwierigen Aufgabe stellten, sich in die westliche Welt zu integrieren. Als sie dies endlich nach langem Experimentieren geschafft hatten, brach die liberale westliche Welt in sich zusammen und diese Juden wurden um ihren geistlichen Sieg betrogen. Das deutsche Judentum wird weiterhin nutzlos bleiben, wenn die amerikanischen Juden sich nicht bereit zeigen, aus den Erfahrungen der deutschen Juden zu lernen.

Es ist zweifelhaft, dass dieser Fall sofort eintritt. Das amerikanische Judentum durchläuft die gleichen Entwicklungsstufen vom schützenden Ghetto zum westlichen Leben, die auch das deutsche Judentum genommen hatte. Wegen der erhöhten Geschwindigkeit unserer Welt durchläuft es diese Phasen sehr viel schneller und könnte daher von den Erfahrungen jener profitieren, die diesen Prozess in einer gemächlichen Epoche erlebt haben. Doch ist es genau dieser Stress, unter dem die amerikanischen Juden in dieser Zeit des Wandels stehen, der ihnen die Fähigkeit zu nehmen scheint, das deutsche Judentum und sein Schicksal auf eine objektive und sachliche Art und Weise zu sehen. Indem man das Wort „Assimilierung“ benutzte statt der „Integration“, die tatsächlich stattgefunden hatte, machte man den deutschen Juden zum Bösewicht der jüdischen Geschichte, zum Träumer, den das Schicksal eingeholt hat. Genau wie das Mittelalter den Juden als lebendiges Beispiel der Verdorbenheit der Synagoge betrachtete, ist der deutsche Jude für viele seiner amerikanischen Brüder zum Symbol der bestraften Bosheit geworden.

Die deutsch-jüdische Geschichte verdient einen näheren Blick. Vorurteile gegen einzelne Gruppen schaffen unnötige Leichen im Keller unserer nationalen Familie. Wir schaden dem Volk Israel als Ganzes, wenn wir einer Gruppe einen niedrigen Standard attestieren, und somit auch uns selber. Indem wir Stereotypen übernehmen, übersehen wir Lehren, die uns allen nutzen können, denn wir gehören als Volk zusammen und sind voneinander abhängig.

Wie deutsch waren die deutschen Juden?

Man sagt, dass der deutsche Jude eher Deutscher war als Jude. In der Tat war der deutsche Jude sehr patriotisch, manchmal übereifrig, denn bis zum Zeitpunkt der Republik war er immer ein Bürger zweiten Grades gewesen. So lag in der Zurschaustellung eines ausgezeichneten Bürgerdaseins auch die Hoffnung, weiter voran zu kommen. Während der Kaiserzeit durften Juden weder im Staatsdienst arbeiten, noch dienten sie in Friedenszeiten als Offiziere; ihr Status hing immer in der Schwebe. Die Schechita zum Beispiel war stets von Verboten bedroht. In den neunziger Jahren [des 19. Jahrhunderts] regte der Hofprediger des Kaisers die Bildung einer antisemitischen Bewegung an und wurde damit zum Vorläufer des Nazismus: die neugegründete antisemitische Partei entsandte Abgeordnete in den Reichstag. Friedrich Delitzsch, einer der führenden nichtjüdischen Gelehrten des Hebräischen, machte es zu seiner Aufgabe, den biblischen Beitrag zur ethischen Weiterentwicklung der Menschheit als „große Täuschung“ zu „entlarven“, und Treitzschke, einer der größten christlichen Historiker seiner Zeit, machte sowohl seinen Lehrstuhl wie auch seine Bücher zu Plattformen antisemitischer Hetzreden. Der Jude war umgeben von mächtigen Kräften des Antisemitismus. Bei der Abgabe seiner politischen Stimme hatte er keine wirkliche Wahl; da die rechten Parteien sich zum Antisemitismus bekannten, gab er seine Stimme den Linken, denn „Jews have no right“ (Juden haben weder Rechte noch gibt es für sie ein politisches „rechts“).

Der Jude, der sich unsicher fühlte und darunter litt, wollte den anderen und vielleicht auch sich selbst beweisen, dass er ein guter Bürger war. Seinen Minderwertigkeitskomplex kompensierte er, in dem er sich von jüdischen Dingen distanzierte und in allen Fragen deutscher Natur national verhielt. Da er in der liberalen Tradition von Lessing und dessen Zeit groß geworden war, hatte er weiterhin die Hoffnung, dass er eines Tages völlig gleichgestellt sein würde. In der Zwischenzeit wollte er seinen Gegnern keinen Grund geben, Argumente gegen ihn zu sammeln. Wie Franz Rosenzweig einst sagte, konnte sich der deutsche Jude nie ganz mit Deutschland identifizieren. Denn er malte sich das perfekte Bild eines liberalen Deutschlands, mit dem er sich identifizierte. Laut dem deutschen Juden verhielt sich jeder, der diesem Bild nicht entsprach, „nicht deutsch“. Die Juden fühlten sich für üble Handlungen der Regierung oder von Individuen also nicht verantwortlich, denn sie sahen diese Dinge schlicht und einfach als undeutsch an. Zu einer Gruppe zu gehören bedeutet jedoch, sich verantwortlich zu fühlen für sämtliche Handlungen und Charaktere aller Mitglieder. Eine Auswahl ist unmöglich. Das vorausgesetzt, identifizierten sich die deutschen Juden trotz aller versuchten Distanzierung sehr wohl mit dem Judentum, denn es gab nicht einen unter ihnen, der nicht stolz auf die Errungenschaften eines anderen Juden war, wo auch immer in der Welt, oder sich nicht schämte, wenn ein Jude „den Juden einen schlechten Ruf gab“, ungeachtet davon, wo der Schuldige lebte.

Eine ähnliche Einstellung können wir bei den Juden anderer Länder finden, selbst hier in Amerika, wo jüdische Gesellschaften „superamerikanisch“ werden und manche Juden in ihrem Bedürfnis, sich in die Mehrheit einzufügen, zu den großen Themen unserer Zeit schweigen. Das Problem der Rassendiskriminierung ist ein Beispiel. Doch sie haben sicherlich weniger Ausreden als die deutschen Juden (von denen mitnichten alle so waren), denn in Deutschland wartete der Ankläger nur darauf, dass der Jude einen „Fehler“ machte.

Viele Juden, die aus Osteuropa kamen, fanden die Atmosphäre in Deutschland erdrückend – Solomon Schechter war einer von ihnen. Deutsche Juden hatten so lange unter diesen Bedingungen gelebt, dass sie ihre anormale Situation als Normalität wahrnahmen. Es war der „der gute alte Rishes“ – ein Antisemitismus, den man als unvermeidbar ansah. Trotz aller Vorbehalte gab es eine konstante Zuwanderung aus dem Osten. Deutschland war kein Schmelztiegel der Nationen; Einbürgerungen gab es selten, dennoch waren im Jahr 1914 etwa 13 Prozent der Juden in Deutschland kürzlich aus Osteuropa zugewandert. Sie hatten Jiddisch aufgegeben, das in Deutschland nicht mehr als ein Dialekt war, und das deutsche jüdische Leben angenommen, trugen in jeder Hinsicht dazu bei und wurden von der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland weitestgehend akzeptiert.

Jene, die nach Amerika auswanderten, verbrachten wenig Zeit in Deutschland und sahen keinen Sinn darin, das jüdische Leben dort kennenzulernen. Tausenden wurde geholfen, weiterzureisen in die Neue Welt, doch hatten diese Juden keinen wirklichen Einblick bekommen. Jene, die blieben, wurden deutsche Juden. So beruhen Urteile über die deutschen Juden oft auf Hörensagen oder Erfahrungen in Amerika, wo die deutsch-jüdische Gemeinschaft ihre eigene Geschichte und eigenen Charakteristika entwickelt hatte. Als Gruppe waren die deutschen Juden weder ausschließlich Heilige noch Sünder. Was man ihnen in Bezug auf ihre „Germanisierung“ vorwirft, ist das Verhalten einer kleinen Minderheit in einem sehr homogenen Land. Was immer man darüber denkt – es ist psychologisch leicht zu verstehen und kann mit Parallelen im amerikanischen jüdischen Leben erklärt werden.

Integration kontra Assimilation

Es gibt einen Unterschied zwischen Integration und Assimilation. Die Assimilation beinhaltet stets Aufgabe der Individualität; Integration dagegen ist eine Form der Synthese. Wenn zwei Kulturen sich integrieren, lernt die eine von der anderen und umgekehrt, man befruchtet sich gegenseitig. Unter den deutschen Juden gab es zwar solche, die sich assimilierten, doch ist es unangebracht, alle deutschen Juden auf dieser Grundlage zu beurteilen, genauso wie ein Urteil über die amerikanischen Juden basierend einzig auf dem American Council for Judaism ungerecht wäre. Sie mögen lautstark gewesen sein, waren aber nicht repräsentativ.

Die deutschen Juden erreichten einen hohen Stand der Integration, nach dem wir amerikanischen Juden noch streben. Sie erreichten einen Punkt, an dem deutsche philosophische Ideen zum Vehikel jüdischer Ideen wurden.

Deutsche Juden waren die ersten, die sich mit den Problemen der westlichen Gesellschaft auseinandersetzen mussten. Sie wurden gezwungen, sich mit der Welt der „Goyim“ auseinanderzusetzen. Osteuropäische Juden mögen nicht in der Lage gewesen sein, das zu verstehen und nachzuvollziehen, und das Gefühl gehabt zu haben, dass sie bei einer Annäherung selber zu „Goyim“ würden, ganz so wie ein orthodoxer Vater seinen Sohn als „goy“ bezeichnen würde, wenn dieser sich einer Synagoge mit Reform-Tendenzen anschlösse.

Die deutschen Juden, zweifellos von der systematischen Entwicklung der deutschen Ideen geprägt, gingen das Problem methodisch an. Dies an sich war schon ein Zeichen der Integration. Den Juden, der nach der Fahrt in seinem Auto zur Synagoge wütend über das Auslassen des „Pitum Haketoreth“ wird, da er sich als orthodox betrachtet, gab es nicht. Diese zwei Handlungen lassen sich nicht in einem Denksystem vereinbaren. So entwickelte Samson Raphael Hirsch sein System der Tora im Derech Eretz, eine Synthese der strengen Befolgung des Din und der treuen Teilhabe an der westlichen Gesellschaft. Geiger platzierte die westliche Kultur an erster Stelle, während Frankel keinem der beiden Ansätze folgte, sich aber ihrer Ideen bediente und nach einer liberalen Interpretation des talmudischen Gesetzes im Sinne der historischen Kontinuität strebte. Herzl folgte Hegels Schule mit der Apotheose des Staates als das Ein und Alles und basierte seinen Zionismus auf den aktuellen nationalistischen Theorien. Für Hermann Cohen war Kant die Grundlage: Die Vernunft war die Essenz des Judentums und sie war „rein“, da es eine perfekte Beziehung für Menschen unter Gott schuf.

Rosenzweig fügte das mystische Element der Auserwählung Israels hinzu. Das Leben Israels hat eine metaphysische Bedeutung. Die Welt hängt von unserem Dasein ab. Wenn wir authentisch „Wir“ sind, können wir der Welt helfen. Buber bringt die Ideen des Chassidismus ein, die er mit Kierkegaards Philosophie fusioniert, obgleich er ihm oft widerspricht. All dies sind jüdische Systeme der Philosophie. Sie nutzen Methoden und Ergebnisse des modernen Denkens, um die jüdische Position zu stärken, den jüdischen Status zu erläutern und die Juden zu führen. So hat es schon Maimonides gemacht. Und da sie den Juden nicht als isolierte Einheit sehen, sondern in der Mitte der Nationen, in denen er als Bürger lebt und zu deren Wohlergehen er beiträgt, indem er sich gemäß seiner eigenen Kultur und Ethik einbringt, schließt sich der Kreis des Nehmens und Gebens. Das ist Integration.

Diese Führer hätten sich ohne die breite Masse nicht entwickeln können. Schließlich brauchten sie jemanden zum Reden, selbst wenn es ein Gegner war. Ein nicht jüdisches Judentum hätte sie nicht inspiriert. Kein Mensch kann etwas in der Leere und aus einer Leere heraus schaffen. So stehen diese Männer und ihre Werke selbst für den Nachweis, dass es viele Menschen gab, die ihre Gedanken und Arbeiten ermöglichten. Es lohnt, diese breite Masse einmal zu betrachten.

Wie jüdisch waren die deutschen Juden?

Als das deutsche Judentum, ohne es zu wissen, die letzten Jahrzehnte seines Lebens begann, waren die Tage der großen religiösen Auseinandersetzungen vorbei, wobei es noch hin und wieder Streitereien gab. Doch das Judentum als Ganzes war in eine feste Form gegossen worden. Die süddeutschen Juden mit ihrer großen ländlichen Bevölkerung waren überwiegend orthodox. In Mitteldeutschland und an der nördlichen Küste hatte man ein Gleichgewicht gefunden, in dem alle Gruppen einen gemeinsamen Gottesdienst halten konnten. Man hielt dazu einfach einen traditionellen Gottesdienst, aber ohne Orgel. In den großen Städten waren die Liberalen in der Mehrheit. Doch darf deren Orientierung nicht mit der heutigen Reform verwechselt werden. Das mehr oder weniger entscheidende Kriterium war die Orgel. Zusätzlich reduzierten die liberalen Synagogen die Pijutum, die liturgische Poesie, und sprachen mehr Deutsch im Gottesdienst, während die Orthodoxie auf dem herkömmlichen Ablauf bestand, gleichzeitig aber einige Teile der Gebete in deutscher Sprache sagten, die in Predigen ohnehin allgemein akzeptiert wurde. Sicherlich gab es Unterschiede, aber es gab nur eine kleine Reformgemeinde in Deutschland, in der die Menschen wirklich dem Ritus folgten, den wir heute kennen, also ohne Hüte beteten, in der Männer und Frauen zusammensaßen und nur einen Feiertag feierten. Der Einfluss dieser Gemeinde im deutsch-jüdischen Leben war unbedeutend. Aus heutiger Sicht und verglichen mit amerikanischen Bedingungen erkennt man, dass die Unterschiede im Gottesdienst viel kleiner waren, als das deutsche Judentum glaubte. Doch gab es Unterschiede im Alltagsleben, und komischerweise haben ausgerechnet hier die amerikanischen Juden einen gemeinsamen Standard etabliert: den der Nichtbefolgung.

Die Orthodoxie in Deutschland machte keinerlei Zugeständnisse, weder in Bezug auf den Schabbat, Kaschrut noch ein anderes jüdisches Gesetz. Orthodox zu sein bedeutete, am Schabbat nicht einmal ein Taschentuch zu tragen. Man erfüllte jeden Teil des Gesetzes. Für Frauen bedeutete es, einen Scheitel aufzusetzen und regelmäßig in die Mikwe zu gehen. So baute die Orthodoxie ein Gefüge des jüdischen Lebens, das denen, die daran lebten, Seelenfrieden und geistlichen Schutz bot. Doch Orthodoxie ging weiter. In Anlehnung an Hirsch forderte sie das Lernen. Es wurde akzeptiert, dass der moderne Mensch Antworten auf seine Fragen braucht. Dem jungen Juden, der aufgefordert wird, an der westlichen Gesellschaft teilzunehmen, ist es gestattet, Fragen zu stellen und Antworten zu erwarten. Man kann nicht davon ausgehen, dass die Antworten immer zufriedenstellend sein werden, doch nur derjenige, der sich mit der Frage auseinandergesetzt hat, hat das Recht zu sagen: Ich kenne die Antwort nicht. Dies tat die deutsche Orthodoxie und sie war erfolgreich – so eigenartig es zu sein scheint – darin, Juden zu formen, die völlig orthodox und gleichzeitig in der modernen Gesellschaft zu Hause waren. Diese Juden konnten ihren Kindern jüdische Werte vermitteln. Die Verbindung zwischen den Generationen riss nicht ab, das zeigte, wie wertvoll die Integration war. Als die Nazis die Schechita verboten, gaben Tausende den Verzehr von Fleisch auf – bis zuletzt. Das war die deutsche Orthodoxie: etwas steif, etwas formal, bis dahin, dass sie manchmal etwas „Hochmesse“ im Gottesdienst zeigte, doch treu bis zum letzten i-Tüpfelchen des Gesetzes. Der Liberalismus ließ Freiraum und erlaubte eine weitergehende Interpretation des Gesetzes, die aber nie ohne fundierte Orientierung stattfand. Haltung und Auffassung waren zweifellos traditionell. Liberale Juden wussten, wofür sie starben, als sie zu Märtyrern wurden, und wie die orthodoxen Juden hatten sie ihre bedeutenden Helden. Jeder einzelne von ihnen würde in Amerika als „konservativer Jude“ wahrgenommen werden.

Das ländliche Judentum entsprach dem ländlichen Judentum Osteuropas. In den kleinen Dörfern fand man den jüdischen Bäcker und Metzger, die Schule und die Synagoge, die Mikwe, den Friedhof. Der Sabbat breitete seine Flügel des Friedens über das ganze Dorf aus, das von dem Moment an, wenn die Frauen ihre verschlossenen Töpfe zum Bäcker brachten, anders aussah. Die Dörfer waren nicht alle jüdisch, dennoch trugen die Juden bei, ihren Charakter zu prägen, denn sie blieben sich selber treu.

Und sogar die ländliche Bevölkerung schaffte es, jüdische und westliche Kultur und Gesellschaft zu integrieren. Erreicht wurde dies durch Gemeindeschulen.

Jüdische Bildung

Wenn wir über das Lernen in Deutschland sprechen, denken wir an die Schulen der höheren jüdischen Bildung, wie die drei berühmten Rabbinerseminare, die sowohl modern als auch jüdisch waren. Doch diese Institutionen bildeten nur die oberen Ebenen in einer großartigen Struktur jüdischer Bildung. Der Grundstein waren die Gemeindeschulen, deren System weit ausgebaut war, und die regelmäßig vom Staat unterstützt wurden. Der hebräische Lehrer, der als Kopf kleiner Gemeinden diente und unter der Leitung eines Bezirksrabbiners stand, war in weitaus mehr als Hebräisch ausgebildet. Er hatte das Seminar für jüdische Lehrer besucht, das vom Staat für die Ausbildung von Grundschullehrern anerkannt war, hatte sein staatliches Examen bestanden und war ein vollständig qualifizierter Schullehrer im öffentlichen Dienst, der von jeder staatlichen Schule anerkannt werden würde. Zusätzlich war er in Hebräisch und in jüdischen Fächern ausgebildet, in Chasanut liturgischer Musik, und in Schechita. Er war zwar nicht immer ein ausgezeichneter Kantor, doch die jüdischen Gemeinden Deutschlands, insbesondere die kleineren, hatten Interesse daran einen Kantor und einen hebräischen Schullehrer zu haben, der daneben ein vom Staat anerkannter Lehrer war. So war der Lehrer auf dem Land imstande, die Leitung einer Gemeindeschule mit allem Drum und Dran zu übernehmen. Mit seiner Allgemeinbildung brachte er moderne Ideen in die Gemeinde und stellte damit sicher, dass sie den Anschluss an die Außenwelt nicht verlor. Als der Autor dieser Zeilen eine Volksschule für die Landesgemeinde in Oldenburg gründete, konnte er ohne Schwierigkeiten auf die Hebräischlehrer in der Gemeinde zurückgreifen. Sie waren alle vollständig ausgebildet und ließen ihre Schüler fühlen, dass Hebräisch – unterrichtet vom Klassenlehrer – gleichwertig war mit Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen war, die sie ja auch von ihnen lernten. Die Gemeindeschule war das Rückgrat der jüdischen Bildung und man konnte sich darauf verlassen, dass die Tausenden von Menschen, die sie besuchten, ein fester Kern jüdischer Laien in jeder Gemeinschaft sein würden.

Das deutsche Judentum ging noch weiter und entwickelte jüdische Oberschulen in den größeren Städten, Institutionen, die ein Vorbild für Schulen im ganzen Land waren. Letztendlich gab es die Volkshochschule, das „Lehrhaus“. Ursprünglich eine Idee Franz Rosenzweigs, beeinflusste diese neue Einrichtung den wachsenden Trend für Erwachsenenbildung und breitete sich rasch im ganzen Land aus; jede Gemeinde bot etwas an. Es waren keine Vorlesungen, sondern Kurse, in denen sich Lehrer und Schüler mit den Problemen des Judentums auseinandersetzen, nachdem sie sich ein Wissen angeeignet hatten, das ihre Treue vertiefen konnte.

Doch die Studien verlangten nach Büchern und davon gab es viele. Samson Raphael Hirsch hatte der Orthodoxie den Choreb gegeben, und eine Erklärung des jüdischen Gesetzes, den Chumasch, ein enzyklopädisches Werk in deutscher Sprache. Sie waren schwierige Werke, aber verständlich für jedermann geschrieben. Es gab Kinderbücher, von Lehmann zu Einstaetter, keine literarischen Werke, aber sie förderten die Kinderphantasie. Der größte Aufschwung kam jedoch in den letzten Jahren, nachdem sich der Schocken Verlag gegründet hatte. Er hatte den höchsten Qualitätsanspruch und veröffentlichte eine Reihe jüdischer Bücher: Rosenzweigs „Stern der Erlösung“ als Neuauflage, seine Briefe und andere Werke, Bubers Werke, eine neue Übersetzung der Bibel, die Werke von Baeck, eine Geschichte der jüdischen Philosophie, eine Volksbibliothek über alle Themen des Judentums, Bräuche, Geschichte, Philosophie, Chassidismus, Musik, Auszüge jüdischer Schriftsteller. Die Bücher waren günstig und wurden gern und oft gekauft. Neue Projekte tauchten auf. Die Übersetzung des gesamten Talmuds von Lazarus war schon in der zweiten Auflage. Der Talmud auf Hebräisch war schon gedruckt worden. Schocken fügte ein Mischnajot hinzu, eine Abstimmung, einen kommentierten Chumasch (engl. humosh), ein kommentiertes Gebetsbuch, alles auf Hebräisch, die Geschichten Agnons auf Hebräisch und vieles mehr. Und die Menschen kauften, lasen und diskutierten. Sie lasen Boehms Geschichte des Zionismus in einer neuen Auflage und Dubnow und Graetz und viele andere. Zwei große Enzyklopädien wurden veröffentlicht. Die Menschen dursteten nach jüdischen Dingen. Während die Nazis wüteten, bauten die Juden Mauern um ihre Seelen, sammelten Reichtümer, die man ihnen nicht wegnehmen konnte, das Geschenk des jüdischen Geistes. Damit siegten sie selbst in ihrer Niederlage. (Im Originaltext gibt es eine Fußnote, die besagt: Es ist sehr zufriedenstellend, dass das Schocken Verlagshaus nach seinem Haus in Palästina nun auch eins in New York eröffnen wird.)

Zionismus

Es wurde oft gesagt, dass die deutschen Juden, aus dem Wunsch deutsch zu sein, den Zionismus ablehnten. Dass es eine gewisse Furcht gegeben hat, kann man nicht verleugnen, und sie kann psychologisch erklärt werden, was wir weiter oben versucht haben.

Doch es gibt mehr dazu zu sagen.  Theodor Herzl war ein systematischer Denker. Als er begann, Palästina wieder als Heimatland Israels zu denken, ging er nicht nur davon aus, dass alle Juden es so sahen, sondern erwartete, dass sie sich in ihren Ländern von nun an als Exilanten betrachteten. Diejenigen, die nicht gehen wollten, betrachtete er als „Assimilierte“. Selbst wenn einzelne Juden oder Gruppen aus bestimmten Gründen nicht gehen konnten, sollten sie in ihrem Herzen dennoch Palästinenser sein, ohne sich weiterhin irgendeinem anderen Staat zugehörig zu fühlen, zumindest emotional betrachtet. Diese Idee erfuhr später neu Interpretationen, doch die deutschen Juden durchdachten es sorgfältig. Hier verlangte eine Philosophie, die noch keinen Test bestanden hatte, von ihnen, zumindest mental die Bürgerschaft ihrer Heimat aufzugeben. Sie folgten dem Ruf nicht, genauso wenig wie die Mehrheit der amerikanischen Juden ihm heute folgen würde, sollte jemand sie dazu auffordern. Sie waren nicht grundsätzlich dagegen, Palästina aufzubauen. Doch selbst orthodoxe Gruppen, die tief an den Messias und die Zukunft Palästinas glaubten und es mit ganzem Herzen liebten, betrachteten den Zionismus als „nicht jüdisch“. Cohen und Rosenzweig lehnten den Zionismus ab; Cohen glaubte, dass wie alle anderen zu leben dem Juden die einzigartige Qualität nehmen würde, ein Kämpfer für die messianische Idee zu sein; Rosenzweig hegte ähnliche Vorbehalte, zudem verstörte ihn das höchst unreligiöse Leben großer Teile des Jischuw. Er war bereit, die Arbeit der Mizrachim in Palästina zu unterstützen, und löste Cohens Dilemma, in dem er von einer wechselseitigen Beziehung zwischen der Diaspora und Palästina sprach, die beide gebraucht würden: Palästina würde den Status der Juden in der Welt normalisieren und die Diaspora-Gemeinde – durch die Umstände gezwungen, über ihr metaphysisches Existenzrecht nachzudenken – würde mit diesen Ideen das palästinensisch-jüdische Volk inspirieren, sollte es vergessen, der metaphysischen Aufgabe gerecht zu werden, die Gott den Juden in dieser Welt gegeben hatte. Dies sind legitime Argumente. Das amerikanische Judentum hat sie übergangen und gibt sich mit Mitgliedern zufrieden, die ihre Beiträge zahlen, die wir brauchen, die aber den Anforderungen nicht nachkommen, mit denen der Zionismus sie zu Recht konfrontiert. Das Resultat des geistigen Kampfes in Deutschland war, dass jene, die sich für den Zionismus entschieden, in ihm eine spirituelle Kraft sahen. Sie hatten das Problem durchdacht; Bubers Ideen hatten sie dabei unterstützt (die Aufgabe und das Ziel) und sie sahen im Zionismus mehr als nur einen Weg der physischen Erlösung. Der Autor weiß dies, denn er gehörte einer solchen Gruppe an. Wir diskutierten grundlegende Probleme. Durch systematisches Denken wurden Diskussionsteilnehmer nicht nur gute Zionisten, sondern sie mögen einen Einfluss auf zionistische Ideologien gehabt haben, besonders, wenn man bedenkt, dass führende deutsch-jüdische Denker heute die Lehrstühle an der Hebräischen Universität in Jerusalem besetzen.

Ost und West

Wie konnte eine solche Gruppe nicht sehen, welchen Beitrag der Osten leistete, und ihren osteuropäischen Brüdern, die solch ein lebendiges jüdisches Leben geschaffen haben, keinerlei Zuneigung entgegenbringen? So wird es zumindest behauptet. Tatsächlich aber ist diese Behauptung nicht wahr.

Sicherlich hat es solche gegeben, die einem ungepflegten, Jiddisch-sprechenden, bitterarmen Einwanderer, der nicht in die Umgebung passte, nicht die Tür öffneten. Sie gaben ihm Geld und schickten ihn weg. Eine solche Kaltherzigkeit kann man nicht entschuldigen. Und man muss auch nicht nach Entschuldigungen suchen, denn es gab viele, die anders dachten und handelten. Unglücklicherweise gibt es auch in Amerika manche, die einem „Klassen-Snobismus“ anhängen. Reiche und „Gebildete“ auf der einen und die Armen auf der anderen Seite.

Das deutsche Judentum hat weder den Beitrag des Ostens noch seine Menschen je abgewiesen. Ging nicht Hermann Cohen selbst nach Polen, um ein System jüdischer Oberschulen zu etablieren? Cohen wird oft als der Prototyp des Deutschen beschrieben. Er war als Prinz empfangen worden, fühlte sich wie ein König, und nur der Kriegsausbruch machte seinen Plänen einen Strich durch die Rechnung. Heute können wir nur spekulieren, welche Früchte sein Projekt hätte tragen können, wenn man bedenkt, dass sehr viele Menschen, die heute in diesem Land leben, durch diese Schulen gegangen und somit in der Lage gewesen wären, Judentum und westliche Kultur miteinander zu verbinden und dies an ihre Kinder weiterzugeben. Nach dem Krieg wurde das Projekt erfolgreich weitergeführt.

Schon immer hatten die deutschen Gemeinden Wissenschaftler aus dem Osten auf die Kanzel gerufen und die Anzahl rabbinischer Führer unter den deutschen Juden, die aus dem Osten kamen, ist so lang, dass ihre Namen hier nicht alle aufgezählt werden können. Deutsche Juden schickten ihre Söhne zu Jeschiwot, entweder im Osten oder zu solchen, die von Männern aus dem Osten geleitet wurden, die aber nun in Deutschland waren. Führende Lehrer der rabbinischen Schule kamen aus Litauen, Polen oder Ungarn. (Zu diesen Männern zählen S. Breuer, Joseph Horovitz und Jacob Hoffmann in Frankfurt; Ehrentreu aus München; David Hoffmann und J. Weinberg, Rektoren des Rabbiner Seminars in Berlin; Spitzer aus Hamburg; Meyer Lerner aus Altona; sie alle sind führende Rabbiner). Die Teschuwot-Literatur kannte keine Grenzen. Deutsche Rabbiner wiederum wurden nach Osteuropa gerufen Zu ihnen zählen: Chatam Sofer, S. R. Hirsch und Esriel Hildesheimer, um nur ein paar Namen zu nennen.

Der Autor kann bezeugen, wieviel Mühe sich deutsche Rabbiner gaben, um Zuwanderer aus dem Osten in Deutschland heimisch zu machen. Neben dem Altruismus steckte auch ein wenig Egoismus darin, denn die Rabbiner, unter ihnen der Autor, gingen davon aus, dass diese Immigranten ausgezeichnete Laien in Leitungspositionen des jüdischen Lebens sein würden. Doch war dies ein gesunder und von hoher Spiritualität getragener Egoismus. Die Ostjuden, die sich niederlassen wollten, wurden akzeptiert, wie wir weiter oben bereits diskutierten.

Schlussfolgerung

Das deutsche Judentum hatte seine Sünder und Snobs, seine Narren, arrogante Vorgesetzte, seine Schwindler (engl. warped). Doch bestand es aus mehr als nur diesen Menschen, wie manche uns glauben lassen wollen. Vielleicht habe ich alles in einem zu strahlenden Licht gemalt, doch ich  beschreibe nur, was ich gesehen und was ich als wahr erlebt habe. Die deutschen Juden haben einen wertvollen Beitrag zum Judentum in Form von Menschen und Ideen geleistet.

Was wir dem deutschen Judentum aber geben sollten, ist etwas mehr Nachsicht in der Evaluierung, wenn der Perfektion nicht gerecht wird, wie es bei allen Gesellschaften und Gruppen einschließlich unserer amerikanisch-jüdischen Gesellschaft der Fall ist. Wir sollten seine Errungenschaften schätzen und die Märtyrer ehren, die stolz als erfahrene Juden gestorben sind. Wir sollten es objektiv beurteilen und vielleicht lernen wir sogar daraus. Aber wenn wir seine Lehre akzeptieren, sollten wir sie im richtigen Namen zitieren, denn wenn wir eine Redewendung im Namen des Begründers zitieren, bringen wir Erlösung in diese Welt, die in unserem Fall eine Erlösung von Verdacht und Mangel an Brüderlichkeit sowie die Erlösung von der Wahrheit, die wiederum das Ansehen des gesamten jüdischen Volkes mit sich bringt. Das Überbleibsel des deutschen Judentums wird dankbar sein und mit ihm auch der Rest Israels.

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