Die Schrift im Lichte des Talmuds

Dieser Essay mag für Interessierte ohne ein spezielles jüdisches Wissen schwierig erscheinen. Er ist es nicht. Die Quellenangaben für den Talmud können verwirrend wirken (sie werden in der Rubrik ‚Abkürzungen’ erklärt), doch sollte der Leser die Hürde nehmen – es lohnt sich. Der Beitrag gibt faszinierende Einblicke in das Denken der jüdischen Gelehrten und der Juden, die durch diese Lehren geprägt wurden. Und er zeigt, dass die Gelehrten von Beginn an das Judentum nicht nur weiterentwickelt haben, sondern dies aus einer ethischen Haltung und einem tiefen Humanismus heraus taten. Und nur wenn die Nichtjuden das Verhältnis der Juden zum Talmud und damit zur Tora verstehen, können sie beginnen, das Gottesbild der Juden zu verstehen. So hat Trepp dieses Stück nicht nur als Lehrbeispiel dafür gesehen, wie frei und selbstbestimmt die Juden die Schrift aufnahmen, sondern als einen Beitrag zu einem besseren Verständnis der Christen für diese andere Form der Annäherung und damit als einen Beitrag für einen besser informierten und fundierten Dialog. Er hat es 1972 für das deutsche Magazin Emuna geschrieben, es wurde in der Oktober/November-Ausgabe veröffentlicht. Mein Mann hat eine Bibliographie an das Ende gestellt, die ich, um in der Form der anderen Essays zu bleiben, an dieser Stelle erwähne. Nächst den Originalquellen und der Buberschen Schriftübertragung wurden benutzt: George Foot Moore: Judaism in the first Centuries of the Christian Era- The Age of the Tannaim, Vol I, II,III, Harvard University Press, Cambridge, 1932; C. G. Montefiore und H. Loewe: A Rabbinic Anthology, The Jewish Publication Society of America, Philadelphia, 1960; Jacob Neusner: There We Sat Down – The Story of Classical Judaism in the Period in which it was taking Shape, Abingdon Press, Nashville and New York, 1972; James Parkes: The Conflict of the Church and the Synagogue, N.Y. Meridian, 1961

Erkenntnis aus frühem Erlebnis

Eine Erinnerung aus Kindeszeit führt mich zum Gegenstande unserer Betrachtung. Über einem Portal des Gerichtsgebäudes in meiner Geburtsstadt Mainz erhoben sich, in Stein gemeißelt, die zwei Tafeln des Gesetzes, Symbol der Zehn Gebote als Grundlage des Rechts. Römische Ziffern ersetzten die Worte. Auf der linken Tafel, vom Betrachter aus gesehen, fanden sich die Ziffern I, II, III; auf der rechten, die von IV bis X. Dem jüdischen Kinde erwuchsen daraus Fragen. Die Zehn Gebote waren doch ursprünglich in Hebräisch geschrieben, die rechte Tafel hätte daher die ersten Gebote enthalten sollen, um der hebräischen Schrift gerecht zu werden. Doch war dies einfach zu erklären: die Skulptur wollte eben zum Durchschnittsbürger reden, der die Zehn Gebote in Deutsch aus seiner Bibel kannte, oder kennen sollte. Schwieriger war es zu verstehen, warum der Skulptur nach, auf der einen Tafel nur drei Gebote gestanden haben sollten, und sieben auf der anderen: die Wiedergabe der Tafeln in der Synagoge zeigte, im Gegensatz dazu, fünf Gebote auf jeder der Tafeln. Mein Vater gab mir die Erklärung. Christlicher, wie jüdischer Tradition gemäß verkündet die erste Tafel diejenigen Gebote, die sich auf das Verhältnis zwischen den Menschen und Gott beziehen; die zweite Tafel bestimmt das Verhältnis zwischen dem Menschen und seinem Nebenmenschen. Der Unterschied zwischen christlicher und jüdischer Einteilung beruht auf der Interpretation des Talmuds, die für den Juden maßgebend ist. Gemäß rabbinischer Deutung besteht das erste Gebot nur aus einem Satze, in dem die Anerkennung Gottes zur Pflicht gemacht wird: „ICH bin dein Gott [...]“ (Ex. 20:2) Christlicher Anschauung entsprechend ist dieser Satz nur die Präambel; was für den Juden als zwei Gebote gilt, ist nur eines für den Christen. Dafür teilt nun christliche Überlieferung das für den Juden 10. Gebot in zwei Gebote: „Begehre nicht [...]“ (Ex. 20: 15,15) Das zweite Gebot für den Juden ist daher: „Nicht sei dir andere Gottheit [...]“ Das dritte Gebot beginnt mit den Worten: „Trage nicht SEINEN, deines Gottes Namen zum Wahn [...]“ Das vierte verkündet die Sabbatfeier: „Gedenke des Tages der Feier ihn zu heiligen [...]“ Nun finden wir noch einen zweiten Unterschied. Im fünften Gebot, nach jüdischer Zahlung, wird die Ehrung von Vater und Mutter als Grundpflicht des Menschen verkündet. Der Logik nach ist das ein menschliches Verhältnis, die Rabbinen des Talmuds sahen es anders: Elternehrung ist Verpflichtung Gott gegenüber, daher gehört das Gebot auf die erste Tafel. „Die Rabbiner lehren: Es heißt, ‚Ehre deinen Vater und deine Mutter‘, und es heißt ebenfalls ‚Ehre IHN von deiner Habe‘ (Prov. 3:9); die Schrift setzt daher die Ehrung von Vater und Mutter der Ehrung Gottes gleich [...] Drei Teilhaber bringen die Schöpfung jedes Menschen zustande: der Heilige, gelobt sei Er, des Menschen Vater und seine Mutter. Wenn ein Mensch seinen Vater und seine Mutter ehrt, dann spricht der Heilige, gelobt sei Er, ‚Ich rechne es ihnen an, als hätte Ich in ihrer Mitte gewohnt, und als hätten sie mich geehrt.“ (Kidduschin 30b) Daher steht das fünfte Gebot auf der ersten Tafel. Meine Kindesfrage an den Vater und seine Antwort beruhten auf der Lesung der Schrift im Licht rabbinischer Deutung.

Zum Verständnis jüdischer Schriftauslegung

Der Jude liest die Tora im Sinne talmudischer Auslegung. Dies mag dem Katholiken verständlicher sein als dem Protestanten. Der Protestantismus legt die Interpretation der Schrift grundsätzlich – obgleich nicht faktisch – der Erleuchtung des einzelnen anheim. Der Katholik sieht die Schrift in der Deutung der Kirchenvater. Während die Väter der Kirche auf diese Weise das Glaubensgut entwickelten, schufen die Väter der Synagoge auf diese Weise das Gesetzesgut. Grundsätzlich sehen traditionsgebundene Christen und Juden die ihnen überlieferte Schrift beider Testamente oder nur des Alten Testaments (der hebräischen Bibel) als das vollständige Wort Gottes an. Daher ist alles in ihr enthalten. Die Schrift ist vollständig, doch ist sie nicht völlig enthüllt. Der heilige Geist Gottes, der auf den Vätern ruhte, gab ihnen die Weisheit, den Sinn der Schrift hermeneutisch zu erschließen. Diese Enthüllung ist daher Gottes Wort und nicht menschlicher Zusatz.

So entstand eine ins einzelne gehende Exegese, von der uns der oben angeführte Beweis der Göttlichkeit der Eltern ein Beispiel gibt. Diese Exegese beruhte auf hermeneutischen Regeln, von denen Hillel sieben gibt, und die Rabbi Ischmael auf dreizehn erweitert. Es ist dabei bedeutungsvoll, dass selbst die Regeln nicht als menschliche Erkenntnis angesehen werden, sie gelten als „Moses am Sinai überliefert“, das heißt, Gott gab Moses die Regeln zur Deutung der schriftlichen Lehre. (Tos. Sanhedrin 7,11 u.a.)

Diese Regeln wurden schon frühzeitig dem Morgengebet als Rezitation eingewoben, möglicherweise, um dem Juden täglich die göttliche Grundlage der rabbinischen Interpretation in Erinnerung zu bringen.

Von der mündlichen Lehre

Grundlage dieser Auffassung ist der Begriff der mündlichen Lehre, die Moses am Sinai von Gott mitgeteilt und von Geschlecht zu Geschlecht mündlich weiter gegeben wurde: „Moses erhielt die Tora am Sinai. überlieferte sie an Josua [...]“ (Abot 1 :1). Allerdings ging von dieser mündlichen Überlieferung vieles verloren, zum Teil schon zur Trauerzeit nach dem Tod Moses, und musste daher durch Exegese wiederentdeckt werden (Temura 16a). Diese mündliche Lehre ist daher Offenbarung, sie ist Tora, und, gleich Tora, ist sie Weisheit, Chochma. Sie bestand, wie auch die Schrift, vom Urbeginn der Zeit, schon vor der Schöpfung, war für Israel geschaffen, wird ewiglich bleiben, auch in messianischer Zeit. Nach dem Erscheinen und mit der Verbreitung des Christenturns wurde auf die mündliche Lehre noch größerer Nachdruck gelegt. Sie ist Gottes Bund mit Israel. „ER sprach zu Moses: ‚Schreib dir diese Worte nieder, denn laut diesen Worten stifte ich mit dir einen Bund und mit Israel‘ (Ex. 34:27). Als Gott sich anschickte, die Tora zu geben, trug Er sie Moses in richtiger Ordnung vor, Schrift, Mischna, Aggada und Talmud, denn Gott redete all diese Rede‘ (Ex. 20:1). Sogar die Antworten zu den Fragen, die die bedeutenden Schüler der Zukunft an ihre Lehrer zu richten bestimmt waren, wurden von Gott an Moses enthüllt, denn Er sprach all diese Rede. Als Gott geendet hatte, sagte Er zu Moses: ‚Geh nun und lehre sie meinen Söhnen‘ [...] Moses sagte: ‚Herr, schreib Du sie auf für sie.‘ Darauf sagte Gott: ‚Ich hatte in der Tat die Absicht, alles ihnen schriftlich zu geben, aber es würde offenbar, dass einst, in der Zukunft, die Nichtjuden über sie herrschen werden, und dass die Nichtjuden die Tora als ihr Besitztum beanspruchen werden; dadurch konnten meine Kinder wie die Nichtjuden werden. Gib ihnen daher die Schrift in Niederschrift, und Mischna, Aggada und Talmud mündlich, denn diese trennen Israel von den Nichtjuden.“ (Tanch. B. Ki Tissa 58b; ähnlich Pes. R. 14b) Diese Stelle spiegelt die Polemik gegen das Christentum, da die Christen sich als das wirkliche Israel ansahen, hatten sie doch auch die Tora, die schriftliche Lehre. Gleichzeitig erklärt sie die immer wachsende Bedeutung, die der Talmud im Leben der Juden errang: hier war der Bund, hier der Eigenbesitz der Juden, der sie mit Gott einzigartig verband. Umso mehr las man auch die Schrift in talmudischer Deutung. In der Tat bestand eine ausgedehnte Kontroverse über die Niederschrift der mündlichen Lehre, bis die Probleme der Zeit die Überlieferung so gefährdeten, dass eine Niederschrift zur Weitererhaltung der Tradition unumgänglich wurde.

Aus dem obigen Zitat dürfen wir noch einen anderen Schluss ziehen. Gerade die mündliche Lehre, der Talmud, legte dem Juden die Bürde eines lebenslangen Studiums auf und forderte von ihm die sorgfältigste Beobachtung der Minutiae des Gesetzes, wie es die Rabbinen ausgearbeitet hatten. Für die Juden waren aber Studium und Befolgung der Gebote keineswegs Bürde und Last. Das Gesetz als Last anzusehen, die abzulegen war, ist ein Missverständnis jüdischer Haltung. Das Gesetz war Bund, freudig und tathaft verwirklicht, je eingehender man sich ihm gab, desto deutlicher wurde die enge Verbundenheit Gottes mit dem Juden. Hier lag Freude und Entrinnen vom Druck der Zeit und der Welt: „Rabbi Nechunja Ben Ha-Kana pflegte zu sagen: ‚Wer das Joch der Tora auf sich nimmt, von dem entfernt man das Joch weltlicher Herrscher und das Joch weltlicher Mühen“ (Abot 5:3). „[...] Der Heilige, gelobt sei Er, wollte Israel Verdienst zukommen lassen, daher mehrte Er ihnen Tora und Gebote, wie es heißt: ER begehrte um seiner Wahrheit willen, dass die Tora er vergrößere, verherrliche.“ (Jes 42.21) (Abot 6:13)

Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung

Die Lehrer des Talmuds erklärten, dass ihre Auslegung nur die ewige Tora erhelle und in ihr enthalten sei. Die Geschichtsforschung lehrt uns anderes. Die Pharisäer und ihre Nachfolger in den ersten christlichen Jahrhunderten schufen in der Tat etwas Neues. Sie sprachen sich das Recht der Exegese zu und änderten dabei den einfachen Sinn der Schrift. In ihrer Besorgnis um die Erhaltung des jüdischen Volkes, das sie durch das göttliche Gesetz verschmolzen sahen, schufen sie den ‚Zaun um die Tora‘, um jeden Einbruch zu verhindern (Abot 1:1).

So schufen sie in diesen Jahrhunderten das normative Judentum, das sich vom biblischen unterscheidet.

Dass es neu war, geht aus dem Streit mit den Sadduzäern hervor. Diese aristokratisch-konservative Gruppe war den Neuerungen feind. Zum Teil lässt sich das mit ihrer grundsätzlichen konservativen Lebensauffassung erklären, zum Teil auch mit ihrer Befürchtung, dass sie ihre Führerstellung verlieren würden, sollte die neue Richtung in der Gesellschaft Boden gewinnen – was dann auch zutraf. Die Gesetzesauslegung der Sadduzäer war durchaus nicht immer den Pharisäern gegenüber erleichternd, so dass man das Streben um ein leichteres Leben nicht einfach als Grund ihrer Opposition ansehen darf. Vielmehr sie bekämpften das Neue. Doch ging diese neue Lehre so völlig ins Volksbewusstsein ein, dass sie zur ‚Tora‘ wurde. Nur die Karäer lehnten sie ab.

Selbst die Reformbewegung des 19. Jahrhunderts lehnte sie nicht ab. Die Reformer sprachen sich das Recht zu, gleich den Männern des Altertumes, zu neuen Auslegungen berechtigt zu sein. Wie einst, sollten die Bedürfnisse der Zeit ausschlaggebend sein. Allerdings sollten auch die Ergebnisse wissenschaftlicher Bibelkritik berücksichtigt werden. Liest man jedoch die Berichte der Rabbinersynoden des 19. Jahrhunderts, so findet man immer wieder eine Exegese, deren Methode dem Talmud folgt und ihn, wenn möglich, als Beleg für Neuerungen heranzieht. Auch der Reformjude liest die Schrift im Lichte des Talmuds.

Von der Entwicklung mündlicher Überlieferung

Es ist offensichtlich, dass eine mündliche Tradition schon früh entstanden sein muss, und sich schon in der Frühzeit entwickelte. Die Schrift gibt ja das Gesetz vielfach nur im Abriss, die Einzelheiten mussten ausgefüllt werden. Hier sind zwei Beispiele:

Die schriftliche Lehre gibt uns nur wenige Anhaltspunkte bezüglich des Arbeitsverbotes am Sabbat. „Allerhand Arbeit“ ist verboten, aber was ist darunter zu verstehen? „Ihr sollt nicht Feuer anzünden“, sagt die Schrift (Ex. 35:3), Handel ist untersagt (Amos 8:5), das Tragen von Lasten in die Stadt Jerusalem und aus den Häusern ist verboten (Jer. 17:21-24). Eine systematische Beschreibung, die dem Einzelnen Richtung geben könnte, fehlt. Hier traten Überlieferung und Volksbrauch als „mündliche Lehre“ ein.

Das Gesetz, welches die Wiederverheiratung einer geschiedenen Frau erlaubt, weist auf einen Scheidebrief hin (Deut. 24:1-4), lässt jedoch die Scheidungsprozedur im einzelnen ungeklärt. Auch hier musste sich ein mündlich tradiertes Lehrgut entwickeln, obgleich die Rabbinen dessen Urgrund nicht in einem Entwicklungsprozess sahen, sondern als Gott gegebene, offenbarte Lehre erklärten.

Der Hinweis der Schrift nach rabbinischer Auffassung

Die Talmudlehrer sahen in der Schrift direkte Hinweise auf eine mündliche Lehre. „ER sprach zu Moses: Steig den Berg empor zu mir und sei dort, ich will dir die Steintafeln geben: die Weisung und das Gebot, die ich schrieb, jene zu unterweisen.“ (Ex. 24:12) Da nun die Rabbinen von dem Grundsatz ausgehen, dass die Tora kein überflüssiges Wort enthält, müssen sie nun jedem Wort eine Bedeutung geben: ‚Die Steintafeln: das sind die Zehn Gebote, die Weisung: das ist die Schrift (der fünf Bücher), das Gebot: das ist die Mischna, die ich schrieb: das sind die Bücher der Propheten und Hagiographen, jene zu unterrichten: dass bezieht sich auf die Gemara; das lehrt, dass sie alle dem Moses am Sinai überliefert wurden –" (Berachot 5a).

„ [...] schlachte [...], wie ich dir befohlen habe“ (Deut. 12:21). „Das lehrt, dass Moses (die Einzelbestimmungen bezüglich des Schlachtens) als (Gottes)befehl erhielt“ (Chulin 28a). Die Schrift sagt ja selbst, dass ein Befehl ergangen sei, ohne dessen Inhalt schriftlich mitzuteilen.

Das Recht zur Verordnung

Auch dieses Recht sahen die Rabbinen in Tora verankert. Zwar verbietet die Schrift jede Hinzufügung, wie jeden Abstrich von ‚der Rede, die Moses gab‘ (Deut. 4:2; 13:1), doch wird das anderweitig verwandt, zum Beispiel, dass man nicht fünf Abschnitte der Schrift (statt der vier) in die Kapseln der Tefillin (Gebetsriemen) einlegen dürfe (Sanhedrin 11:3), um einer Bewegung, auch die Zehn Gebote in die Kapseln zu legen, entgegenzutreten. Im Gegensatz dazu deuten Deut. 17:9 und 17:11 direkt auf die Funktionen der Rabbinen hin und sanktionieren sie. „Wenn deine Sache deiner Rechtsfindung entrückt ist, [...] da komm zu dem Priester und zu dem Richter, der es in jenen Tagen sein wird, und ersuche, sie sollen dir den Sachentscheid des Rechtes melden. Dann tue nach dem Geheiß des Sachentscheids [...] nach der Rechtsfindung, die sie dir zusprechen, sollst du tun, nicht weiche vom Sachentscheid, den sie dir melden, rechts oder links.“ Dazu der Talmud: „Es heißt: ,Moses und Aaron unter seinen Priestern und Samuel unter denen, die seinen Namen anrufen […]‘ (Ps. 99:6). Die Schrift vergleicht bedeutende Männer mit unbedeutenden, um dir zu sagen: wie Moses in seinem Zeitalter (der autoritative Richter war), so [...] Samuel in dem seinen. Dies lehrt dich, dass selbst der Unbedeutendste [...] dem Bedeutendsten gleiche, sobald er über die Gemeinde als Richter gesetzt ist. Ferner heißt es: ,da komm zu dem Priester, [...] der es in jenen Tagen sein wird‘, könntest du dir denn einbilden, jemand könne zu einem Richter gehen, der nicht zu seiner Zeit lebt? Dies bedeutet, du darfst nur zu demjenigen gehen, der in seiner Zeit da ist (und darfst dich nicht stattdessen auf die Entscheidungen der Früheren stützen), denn wir lesen ebenfalls: ‚Sage nicht, wie kommt es, dass die früheren Tage besser waren als die jetzigen (Eccles. 7:10)“ – (Rosch Haschana 25B).

Die Pflicht des Gehorsams

Der Talmud geht noch weiter. „Nicht weiche […]‘, alle Verordnungen der Weisen ruhen auf dem Verbot ‚Nicht weiche“ (Berachot 19 b). Die Rabbinen erklären somit, dass jemand, der den Geboten der Weisen den Gehorsam entzieht, ein ausdrückliches Verbot der schriftlichen Lehre übertritt, nämlich das Verbot: Weiche nicht. So fanden sie in der Tora selbst die Sanktion für ihre Anordnungen und für deren verpflichtende Kraft.

Beispiele rabbinischer Interpretation und ihre Ergebnisse

Aus der Fülle der Beispiele seien nur einige herausgegriffen, die von Bedeutung sind.

1. Wer immer die Schrift der Hebräischen Bibel liest, steht unter dem Einfluss der rabbinischen Redaktion. Die Lehrer wählten das Material aus. Das Alter eines Werks war neben seinem inneren Wert von Bedeutung. Die Diskussion über die Kanonisierung einzelner Werke ist uns erhalten (Jadajim 3:5, u. a.), von dem, was sie verwarfen, mag vieles uns dauernd verloren sein.

2. Das Tetragrammaton, der vier-buchstabige Name Gottes, wurde im Laufe der Zeit immer weniger gesprochen und wurde durch Adonai, der Herr, ersetzt. Nicht länger war es der Gott eines Volkes, der, dem Volke gleich, um sein Lebensrecht in der Welt zu kämpfen hatte; Er war der Herr. So wurde dann, unter rabbinischer Anordnung verboten, den Namen in seiner Urform auszusprechen, und so blieb es. „Wer ihn ausspricht, wie er geschrieben ist, hat keinen Teil an der künftigen Welt.“ (Sanhedrin 10:1; 90a, u.a.) Dafür aber schufen die Rabbinen neue Namen, durch die die enge Verbindung und Allgegenwart Gottes mit Menschen und in der Welt gestärkt wurde. Schechina spricht von Gottes Gegenwart im Strahlenlicht, das, sonnengleich, von einer Quelle, alle Schöpfung umfasst, und dennoch bei den Erniedrigten wohnt (Sanhedrin 39a); König ist Er und garantiert die ewige Ordnung und ewiges Recht in der Welt, bis, am Ende, Sein Königsreich kommt. Vater ist er, „Unser Vater, der im Himmel ist“. Diese Bezeichnung Gottes als Vater findet sich schon in der Schrift, beispielsweise, „Du ja bist unser Vater! Abraham ja kennt uns nicht, Jisrael merkt nicht auf uns, DU selbst bist unser Vater, Unser Löser-seit-Urzeit dein Name!“ (Jes. 63,16) Die Frömmigkeit der späteren Zeit rückt Vater mehr in den Vordergrund. „Sei mutig wie der Leopard, schnell wie der Adler, geschwinde wie die Gazelle und mutig wie der Löwe den Willen zu tun deines Vaters der da ist im Himmel.“ (Abot 5:22) „Seit den Tagen der Zerstörung des Tempels [...] auf wen können wir uns stützen? Auf unseren Vater, der da ist im Himmel“ (Sota 9:15). „Rabbi Akiba sagte: Heil Euch, Israel! Wer ist es, vor dem ihr euch reinigt, und Der Euch reinigt (von der Sünde)? Es ist euer Vater, der da ist im Himmel. So heißt es: ‚und ich werde reines Wasser über euch sprengen und ihr sollt rein werden‘ (Ezek 36:25), und weiterhin heißt es: ‚Tauchbad Israels ist ER‘ (Jer. 17:13). Wie das Tauchbad die Unreinen reinigt, so reinigt der Heilige, gelobt sei Er, Israel.“ (Joma 8,9) Die Reinigung, die das Tauchbad bewirkt, ist ritueller Art, so auch ist die Reinigung, die Gott hervorbringt, die Erneuerung von Sünde. Akiba spielt dabei mit der Doppelbedeutung des Wortes „Mikwe“, das sowohl im Sinne von „Hoffnung“ (Jer. 50:7), wie auch im Sinne von „Tauchbecken“ verstanden werden kann (Lev.11 :36). Der Anruf „Unser Vater im Himmel“ findet sich somit mit einer ganzen Reihe von Gefühlen verbunden. ER ist immer da. Akibas Wort eröffnet noch weitere Einsicht. Der Sündige braucht keine „Rechtfertigung“, nur die Rückkehr, das Sich-Versenken in Gott. So spricht denn der Jude im täglichen Gebet: „Vergib uns, unser Vater, denn wir haben gesündigt, verzeih uns, unser König, denn wir haben uns vergangen.“ Die Innigkeit und Herzensverbundenheit des Juden mit Gott, dem Vater, und ebenso das Vertrauen auf eine bessere Welt durch Gott, den König, stammen aus der Rabbinischen Definition des Namen Gottes, in der sich Gottes Wesen offenbarte. Aber nicht nur die des Juden; die gleichen Gefühle, die den Christen erfüllen, das gleiche Seelenerlebnis, das ihn zu Gott bewegt, stammen ebenfalls aus der Quelle, denn zur Zeit Jesu war der Begriff schon voll entwickelt: Gott, der Vater, der Mensch als Gottes Sohn, das Königreich Gottes als feste, vertrauende Hoffnung. So sprach Jesus und so lehrte er die christliche Welt das „Vater unser“, das jüdische Gebet, das im Kaddischgebet seinen Ursprung hat.

Daneben sieht das rabbinische Judentum im Tetragrammaton den Ausdruck göttlicher Liebe, im Namen Elohim den göttlicher Strenge und Gerechtigkeit, und lehrt, dass Gott „Im Anfange“ die Welt auf dem strengen Recht erbauen wollte – und sah, dass sie so nicht bestehen konnte; daher verband Gott mit diesem strengen Recht die liebende Barmherzigkeit, um schließlich ganz durch Liebe zu regieren. Daraus verstehen sich die verschiedenen Namen Gottes in der Schöpfungsgeschichte. (In Genesis 1:1-2:3 finden wir Elohim; von 2:4-3:24 beide Namen, und von da an nur noch „Adonai“; die Bibelkritik sah darin verschiedene Quellen.) Die Gotteserkenntnis des Juden kommt durch die Rabbinen.

3. „Höre Jisrael: ER unser Gott, ER Einer! So liebe denn IHN, deinen Gott, mit all deinem Herzen, all deiner Seele, mit all deiner Macht.“ (Deut. 6:4-5) Aus einer einfachen Anrede wurde durch die rabbinische Interpretation das Glaubensbekenntnis des Juden. „Höre Jisrael“ drückt „das Aufsichnehmen des Königtums des Himmels (Gottes)“ aus (Berachot 13a), darum begleitet der Satz den Juden durchs Leben und ist stets mit größter Kawana, Ausrichtung des Geistes und der Seele, zu sprechen. So war es auch schon zu Jesu Zeiten. Die Erhebung dieses Satzes zu seiner Bedeutung ruht auf dem Deutungswort der talmudischen Meister.

4. „Wahret meine Satzungen und meine Rechtsgeheiße, als welche der Mensch tut und lebt durch sie. ICH bins.“ (Lev. 18:5) Auf die Frage, woher denn zu entnehmen sei, dass eine Lebensrettung den Schabbat verdränge (und das Arbeitsverbot aufhebe), gaben mehrere der Meister verschiedene Antworten. Rabbi Jonatan ben Joseph erklärte: „Es heißt ,er (der Sabbat) muss euch heilig sein‘ (Ex. 31:14), er ist euch übergeben, nicht ihr aber ihm [...]“ Rabbi Jehuda sagte im Namen Samuels: „Ich habe noch einen besseren Beleg; ,und lebt durch sie‘ (den angeführten Vers), – und nicht, dass er durch sie (die Gebote) sterbe.“ Die Deutung eines einfachen Wortes machte die Übertretung des Gebotes, selbst des Sachgebotes zur Pflicht, wenn es darum geht, ein Menschenleben zu retten. (Joma 85a, b) Gleichzeitig sehen wir, wie auch Jesus der rabbinischen Ausdeutung folgte. (Es gibt allerdings Fälle, wo man das Leben preisgeben muss, wenn man es z. B. nur durch einen Mord retten könnte.)

5. Man hat dem Juden oft vorgehalten, dass er „Auge um Auge, Zahn um Zahn [...]“ (Ex. 21 :24) als Grundregel des Rechtes betrachte. Der Jude ist darüber gekränkt, denn er kann den Satz nur im Lichte rabbinischer Lehre verstehen. Der Talmud Baba Kamma 83a bis 84b bringt eine lange Diskussion der Rabbinen. Die Begründungen aus der Schrift sind vielfältig, aber der Schluss ist einstimmig. Der Satz spricht nicht von körperlicher Strafe, sondern lediglich von Geldbuße, die dem Wert des beschädigten Organes entsprechen und außerdem noch andere Kosten in Berechnung ziehen muss: „Auge um Auge heißt Geldentschädigung!“ Hier ist es nun von besonderer Wichtigkeit, im Sinn zu behalten, dass die Rabbinen nicht von der Idee einer ethischen Weiterentwicklung des Gesetzes bestimmt sind. Was sie aus der Schrift lesen, war ja schon immer darin, auch die Interpretation ist Gottes Wort. Das bedeutet dem traditionsgebundenen Juden, dass eine körperliche Strafe niemals bestand, sondern dass Gott unmittelbar den Sinn des Gesetzes „Auge um Auge“ als Geldersatz für verlorene Verdienstkraft bestimmte. Selbst das Verhängen der Todesstrafe wurde durch Deutung der Schrift so erschwert, dass ein Gerichtshof, der sie einmal in 70 Jahren verhängte, als „zerstörend“ galt, das heißt, sie war praktisch abgeschafft (s. Sanhedrin 33). Verfehlt man, in der Erforschung des Judentums die Schrift im Lichte des Talmud zu verstehen, so kommt es dabei zu einem Missverständnis, das dem Juden zur Kränkung wird.

6. Die Askese ist dem Juden fremd. Auch hier beruft er sich auf den Talmud. So finden wir in Numeri, dass der Nasiräer, der sich aus Frömmigkeit die Genüsse der Welt versagt hat, am Ende seiner Gelübdezeit – oder falls „Unreinheit“ die Zeit unterbrach – ein Sündopfer bringen muss, „weil er sich an der Seele vergangen hat“ (Num. 6:11). „[...] an welcher Seele hat er sich vergangen’ (An der eigenen), weil er sich dem Weingenuss entzogen hat [...] Wenn dieser schon Sünder heißt […] um wie viel mehr derjenige, der sich die Entziehung jeglichen Genusses auferlegt. Wer daher in langem Fasten verweilt, heißt Sünder.“ (Nedarim l0a) Für jeden erlaubten Genuss, den sich der Mensch versagt, schuldet er Gott Rechenschaft. Ein paar Worte werden zur Lebensregel.

Glaubens- und Lebensformen

Verfolgen wir nun die Entwicklung von Glaubens- und Lebensformen, die sich aus der talmudischen Schrift ergaben, und zum Teil im Einklang mit christlichen stehen, zum Teil aber von ihnen abweichen. Im Großen und Ganzen folgen wir hier den Kapiteln der Bibel.

1. War die Tora göttlich, so durfte es keinen Unterschied im Wert ihrer Worte und Verse geben. Dennoch nahmen große Lehrer sich das Recht, die größte Lehre der Schrift zu finden und zu verkünden, wie es auch Jesus tat. „Akiba lehrte: ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, ist das wichtigste Wort der Tora’, Ben Asai sagte jedoch: ‚Dies ist die Urkunde der Zeugen Adams (Gen. 5:1) ist noch größer wie das erstere.“ (Jerushalmi, Nedarim, 9:4) Die Gesamtheit der Menschengenerationen ist vor Gott gleich.

2. Die Sünde Adams brachte den Tod in die Welt, wie Genesis berichtet. Dennoch glaubt der Jude nicht an Erbsünde. Der Mensch sündigt, wie Adam sündigte, er ist nicht mit Sünde belastet, weil Adam sündigte (Buber). Des Menschen Tod ist sein eigenes Tun. So sagt der Midrasch: „Gott führte alle Menschenseelen an Adam vorbei, und sagte ihm: Sieh wie vielen Guten du den Tod brachtest. Adam, in tiefster Seelennot, flehte Gott an, er möge es ihm nicht zuschreiben, und Gott versprach es ihm: Wenn ein Mensch aus der Welt scheiden soll, so werde Ich ihn alle seine Taten aufschreiben und unterschreiben lassen. Der Urteilsspruch beruht auf seinem Zeugnis, wie es auch heißt: ‚auf Grund der Unterschrift eines Menschen Hand besiegelt Er (sein Urteil)‘ (Hiob 37:7 in rabbinischer Deutung). Daher kann Adam allen seinen Nachkommen sagen: Ich war nur einer Sünde schuldig, ihr beginget viele, und eure Sünden brachten euch den Tod.“ (Tanchuma, Beresohit Par. 29; Hukkat Par. 39) Ein sündloser Mensch stirbt nicht, daher ging Elias zum Himmel und starb nicht, denn er war ohne Sünde (Pesikta 76a).

3. Es war den Rabbinen undenkbar, dass Gott, dem „die Zeugungen Adams“ so wertvoll waren, sie ohne Lehre, Führung und Gesetz gelassen haben sollte, bis Israel kam. So schloss er einen Bund mit Noah (Gen. 9:8-17). Das bedeutete jedoch, dass er ihm Gebote gab, die damit der Gesamtmenschheit Bindung und Verbundenheit mit Gott und miteinander gewahrten. Sieben Noachidische Gebote gab Gott als Zeichen seines Bundes: Das Verbot des Götzendienstes, der Gotteslästerung, des Mordes, der Unzucht, des Raubes, des Genusses von Fleisch, das einem lebenden Tiere abgeschnitten war, und das Gebot, Gerichtshofe einzusetzen. (Tos. Aboda Sara 8:4; Sanhedrin 56a) Von solch einer Bestimmung weiß die Schrift nichts, aus der rabbinischen Lesung und ihren Zufügungen entspringt die Idee der menschlichen Gleichberechtigung vor Gott und der menschlichen Bruderschaft. Um volle Anerkennung vor Gott zu gewinnen, bedarf es für den Nichtjuden nur der Befolgung menschlicher Grundgesetze der Gerechtigkeit, der Liebe zum Nebenmensch und zum Tier. Dann kann er „nach seiner Façon selig werden“. So hat der Jude sein Verhältnis zur Umwelt verstanden.

4. Die Ewigkeit der Tora legte es nahe, dass die Patriarchen mit ihr vertraut waren. „Rav sagte: ,Unser Vater Abraham befolgte die ganze Tora, denn es heißt: Weil Abraham auf meine Stimme gehört hat, und wahrte meine Verwahrung, meine Gebote, meine Satzungen, meine Weisungen‘ (Gen. 26:5)“. (Joma 28b) Indem die Meister des Talmuds jedes Wort der Schrift als bedeutungsvoll ansehen, kann ihnen der Vers, der von Verwahrung, Geboten, Satzungen und Weisung spricht, nur eben eine Bedeutung haben: Abraham befolgte die Mizwot. Gleichzeitig wird diese Auslegung als Entgegnung gegenüber Paulus anzusehen sein, der ja aus Abrahams Beispiel beweist, dass der Glaube, und nicht das Gesetz selig macht. (Abgesehen davon, dass Gen. 15:6 von Abrahams „Emuna“, seinem Vertrauen zu Gott, spricht, nicht vom „Glauben“).

5. Die Lehre der Auferstehung findet sich in der Schrift der Hebräischen Bibel nicht, dennoch ist es eine Grundlehre des Judentums: „Ganz Israel hat Anteil an der künftigen Welt.“ Wiederum lesen es die Rabbinen aus Worten der Schrift. Nach Errettung der Kinder Israel am Roten Meer, „damals sangen Moses und die Sohne Israels IHM diesen Gesang.“ (Ex. 15:1) Der hebräische Text „as yaschir“ kann in zweierlei Weise verstanden werden: „damals sang“ und „dann wird singen“. Rabbinischer Auffassung nach wählte die Schrift diese zweideutige Form, um nicht nur von der Vergangenheit zu berichten, sondern gleichzeitig auf die Zukunft der Auferstehung hinzuweisen (Mechilta: Schirah).

Ferner sagt der Talmud: „Wo ist die Auferstehung der Toten in der Tora angedeutet? Es heißt: ‚Von all euren Zehnten der Ernte) gebet davon SEINE Hebe Aaron dem Priester.' (Num. 18; 28) Aber sollte Aaron denn ewig leben? Kam er überhaupt ins Land hinein (wo es erst Ernte gab)? Dies lehrt, dass er einst wieder leben wird, und die Kinder Israel ihm die Hebe geben werden. Hier ist demnach die Auferstehung der Toten in der Tora angedeutet.“ (Sanhedrin 90b) Mag man diese Interpretationen als spitzfindig ansehen, so ergibt sich dennoch aus ihnen, wie die Glaubensbegriffe des Judentums durch den Talmud auf die Schrift zurückbezogen werden. Heute sagt uns die wissenschaftliche Forschung, dass das antike Judentum die neue Idee der Auferstehung in sein System hat einbauen müssen, dass die Rabbinen danach suchten, ex post facto eine Rechtfertigung für sie zu finden. Den Alten wie dem gläubigen Juden erschien und erscheint es nicht so: Gott hat für ihn, in der Tora, auf die Auferstehung hingewiesen.

6. Die Tora wurde am Sinai dem jüdischen Volk gegeben. Aber ist das nicht eine Bevorzugung Israels? Die Talmudlehrer erklären, dass die Tora erst allen Völkern der Welt angeboten worden sei, dass diese sie jedoch zurückgewiesen hatten (Pesikta, 200a, u. a.). Dann erst wurde sie Israel gegeben. Die freiwillige Annahme der Tora als Lehre und Gesetz macht, im Sinne neuzeitlicher Ethik, die Befolgung zu einem ethisch autonomen Akt. Wenn Kant behauptet, dass nur der aus der autonomen Persönlichkeit entstandene Akt von vollem ethischen Wert sei, so trifft das aufs Judentum zu. Die Juden akzeptierten die Tora aus innerer, freier Entscheidung, nicht als aufgezwungenes Gesetz. (Allerdings gibt es rabbinische Erklärungen, die besagen, dass auch Israel die Tora nur unter Zwang annahm.)

Die Tora wurde in der Wüste gegeben, einem Gebiet, das niemandem, daher allen gehörte, Gott verkündete sein Wort in siebzig Sprachen, und Moses erklärte das Gesetz in siebzig Sprachen, allen Sprachen der Welt. (Sabbat 88h, Gen. Rabba 49,2)

„Rabbi Meir sagte: Woher weißt du, dass selbst der Nichtjude, der sich mit der Tora beschäftigt, dem Hohenpriester gleicht? Weil es in der Schrift heißt: ‚Wahret meine Satzungen und meine Rechtsgeheiße, als welche der Mensch tut und lebt durch sie.‘ (Lev. 18 :5) Es heißt nicht, (welche) die Priester, die Leviten, die Israeliten (tun), sondern der Mensch. Dies lehrt dich, dass selbst der Nichtjude der sich mit Tora befasst, dem Hohenpriester gleicht.“ (Sanhedrin 59a, obgleich andere eine engere Haltung zeigen.) In gleicher Weise werden Is. 26,2, Ps. 118:20, Ps. 33:1, Ps. 125:4 erklärt. Nirgends spricht die Schrift von Priestern, Leviten, Israel, sondern von Menschheit. Das Bewusstsein der universellen Berechtigung aller Menschen, Tora zu erwerben, und das hieß in der Antike, des besonderen Gottesgutes teilhaftig zu werden, verblieb im Judentum, und verband sich mit der Anerkennung menschlicher Gleichberechtigung auf Grund der noachidischen Gebote.

7. Nach der Sünde des Goldenen Kalbes kehrte Moses zum Berg zurück, um Gottes Verzeihung für das Volk zu erflehen. Sein Wunsch, das göttliche Angesicht zu schauen, wurde ihm verwehrt, doch schritt Gott an ihm vorbei; „Ich will ausrufen den NAMEN vor deinem Antlitz, dass ich begnade wen ich begnade, dass ich erbarme, wes ich erbarme.“ (Exod. 33:19) „Ich begnade wen ich begnade‘ – obgleich er dessen nicht würdig ist; ‚Ich erbarme wes ich erbarme‘ – obgleich er dessen nicht würdig ist" (Berachot 7a). Im Zusammenhang mit dieser Stelle sagt George Foot Moore, der große protestantische Erforscher des rabbinischen Judentums: „Paulus’ Argument (gegen das Judentum) beruht auf zwei Voraussetzungen, die jüdischer Denkweise fremd und dem jüdischen Geist zuwider sind: Erstens, dass die Rechtlichkeit unter dem Gesetz als Vorbedingung der Erlösung vollständige Befolgung des Gesetzes verlange (Gal. 3:10-12); und zweitens, dass Gott in seiner Rechtlichkeit nicht dem reuigen Sünder frei vergeben und ihm Erlösung nur aus Gnade gewähren könne, und nicht auf Grund des menschlichen Verdienstes. Diese zweite Voraussetzung ist nicht so ausdrücklich entwickelt, wie die erste; doch ruht auf ihr die gesamte Notwendigkeit des sühnenden Todes Christi (s. u. a. Röm. 3,25). Dabei ist zu bemerken, dass Paulus das ganze Problem von Vergebung auf Rechtfertigung hin verschiebt [...] Den Juden ist es eine Quelle dauernden Erstaunens, wie ein Jude, der seiner eigenen Bezeugung nach in einem orthodoxen Hause aufgewachsen war, ein erklärter Pharisäer, zeitweilig, wie berichtet, ein Schüler in der Schule Gamaliels des Älteren, augenscheinlich gut vertraut mit Schrift und Hermeneutik seiner Zeit, je dazu gekommen sein konnte, solche Behauptungen oder Annahmen zum Ausdruck zu bringen [...] Die zwei Voraussetzungen [...] sind nicht Grundlagen, aus denen Paulus Ergebnisse herleitete; sie sind die Postulate, die das vorausgesetzte Ergebnis erfordert. Seine These ist, dass es keinerlei Erlösung gibt, außer durch den Glauben an den Herrn und Heiland Jesus Christus. Die Juden waren genau so positiv, dass der einzige Weg zur Erlösung die Religion war, die Gott ihnen in Schrift und Tradition offenbart hatte, mit allen ihren Lehren und Gebotsbefolgungen, und sie waren eifrig dabei, Proselyten selbst unter den Heiden zu machen, die das Christentum angenommen hatten. Paulus musste daher beweisen, dass das Judentum überhaupt kein Weg zur Erlösung sei, weder auf Grund des menschlichen Verdienstes, noch auf Grund der Gnade Gottes, die dem Bußfertigen vergibt. Er kann kaum erwartet haben, dass sein Argument auf die Juden irgendeinen Eindruck machen wurde, da sie seine beiden Voraussetzungen verneinen wurden. Er schrieb, in der Tat, nicht für Juden, sondern um seine heidnischen Konvertiten davon abzuhalten, von den jüdischen Propagandisten überzeugt zu werden, die darauf bestanden, dass Glaube an Christus ohne Befolgung des Gesetzes nicht zur Erlösung genüge [...].“[1]

Die Worte G. F. Moores legen Zeugnis davon ab, dass der Dialog mit dem Judentum nur auf einem Verständnis der Schrift im Lichte des Talmuds erfolgreich sein kann. Wie auch Juden die Kirchenväter studieren müssen, um christlichem Glauben gerecht werden zu können. Der Verfasser erlaubt sich zum Schluss die Hoffnung, dass wir alle, Christen und Juden, indem wir uns gemeinsam mit Tora beschäftigen, und uns in eigene Tradition und die des anderen versenken, dem Worte Rabbi Meirs gemäß zu Priestern Gottes werden.

[1] Judaism in the First Centuries of the Christian Era, Cambridge, Harvard U.P., 1940; Vol. III, S. 150, Note 209

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