Die Wissenschaft des Judentums und die deutsche Universität
Die Vermittlung jüdischen Wissens stand im Zentrum des Lebens von Leo Trepp – bis zuletzt. Noch sechs Wochen vor seinem Tod saß er mit der Vizepräsidentin der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz beim Abendessen am Rhein und plante seine Vorträge für das kommende Jahr. Was ihn neben seinem Wissensdrang und dem Bedürfnis, das Judentum für Juden als wichtig und meinungsvoll zu erhalten, ist das, was jüdische Gelehrte und Forscher neben vielen anderen Motiven über die Jahrhunderte angetrieben hat: Dem Judentum einen eigenen, lebendigen Stand in der Welt zu geben, den Nichtjuden zu vermitteln, dass es eine Religion ist, die nicht von anderen abgelöst wurde, sondern die sich ständig weiterentwickelt und der Welt auch heute noch viel zu geben hat. Dieser Essay ist die überarbeitete Form des Vortrags, den Trepp anlässlich der Verleihung der Würde eines Honorarprofessors am 5. Juli 1988 an der Mainzer Universität gehalten hat. Nur eine Bemerkung: Die erwähnte Mainzer liturgische Musik, von der Trepp damals noch sagte, es gebe sie heute nicht mehr, gibt es dank seiner Mühe und seines Beharrens wieder: Aus seiner Erinnerung heraus sang er die synagogalen Melodien – die Nigune Magenza, die über die Jahrhunderte nie verändert worden waren – sie wurden in Noten transkribiert und dann mit Chor und Kantor aufgenommen.
Professor Dr. Gerson D. Cohen, der frühere Präsident des Jewish Theological Seminary, erklärte, dass eine positive Assimilation an die Umwelt die Juden immer wieder zum Nachdenken über das Wesen ihres eigenen Erbes herausgefordert und ihnen damit immer neue Vitalität verliehen habe.[1]
Mir wurde diese Idee vor allem durch meine Eltern vermittelt, denen ich tiefsten, lebenslangen Dank schulde. Mein Vater, der hier auf dem jüdischen Friedhof ruht, führte mich in die Tora ein; mit ihm lernte ich von frühester Jugend an. Zugleich aber öffnete er mir die Tore zur Kultur des Westens, zu Latein, zu Kunst, Malerei und Bildhauerei, zur Literatur, zu den deutschen Klassikern und zu Shakespeare, zur Musik, vor allem der Oper, die er leidenschaftlich liebte. Meine Mutter, die von Mainz aus deportiert zur Märtyrerin des Glaubens wurde, war eine Frau tiefster Frömmigkeit. Zugleich aber half sie mir bei meinem Französisch und erzählte mir von Paris, wo sie ein Jahr lang gelebt hatte. Diese Verbindung kam mir zu als Mainzer in Mainz, aber ebenfalls aus Mainzer Tradition. Dem lateinischen Namen Moguntia, abgekürzt von Moguntiacum, entspricht der hebräische Magenza. Diese Namensverwandtschaft bezeugt bereits die Synthese von jüdischer und westlicher Kultur im Leben der Mainzer Judenschaft.
Moguntia bildete mich durch Schule, Theater, Bibliothek, vor allem aber durch das Gemeinschaftsleben. Magenza mit seiner eigenen Tradition und liturgischen Musik, die heute nicht mehr bestehen, gab mir die Verbindung zur jüdischen Vergangenheit in einzigartig örtlich profilierter Form. Das Erbe ist wesentlich fürs Judentum. Die Juden sind ein Geschichtsvolk, das erste, welches der Geschichte Bedeutung zumisst, denn Gott selbst offenbart sich ihm, wie im ersten der Zehn Gebote als Gott der Geschichte. Der Appell „Zachor“, erinnere dich, sei dir deiner Geschichte als gestaltenden Lebenselements bewusst, erscheint 169 Mal in der Heiligen Schrift.[2]
Nach dem Fall des zweiten Tempels begann der Prozess einer
Umgestaltung, der mindestens bis ins Fünfte Jahrhundert weiterging. Durch ihn erhielt das Judentum die Gestalt, die es noch heute besitzt. Dabei war das Judentum in der Lage, den Hellenismus vollkommen in das eigene System einzubauen, ohne seinem eigenen Wesen dabei Abbruch zu tun. Der Preis für diese schöpferische Assimilation war allerdings, dass man der Geschichte als Weiterentwicklung entsagte. Man stieg aus der Geschichte aus. Die Geschichte ging bis zum Ende der in der Schrift berichteten Ereignisse, die folgende Entwicklung bis zum Kommen des Messias galt als Wüste, die zu untersuchen keine Notwendigkeit bestand. Rabban Gamaliel I. lebte zur Zeit des jüdischen Historikers Josephus, doch berücksichtigte er das Werk seines Zeitgenossen in keiner Weise, sondern setzte die Zukunft des Judentums auf die Entfaltung der „schriftlichen Tora“ durch die „mündliche Tora“ in Diskussion und Exegese. Diese wurde zur Grundlage der Halacha, des Religionsgesetzes. Geschichtsepochen verloren somit ihre Eigenart; die Geschichte wurde gerafft, so dass die Meister verschiedener Generationen und Jahrhunderte, selbst der Antike, mit denen des Mittelalters ins Gespräch kommen konnten, als man den Talmud mit seinen Kommentaren las, um die Halacha herauszuarbeiten.
Die Verbundenheit mit der Umwelt blieb jedoch erhalten. So sprachen die deutschen Juden deutsch, das im Osten zu jiddisch wurde, die französischen sprachen französisch, was aus Raschis Kommentar hervorgeht, der schwierige Wörter auf französisch wiedergibt. Selbst der Kampf gegen die Anthropomorphismen der Schrift, den Maimonides in seinem „Führer der Verwirrten“ führt, mag ein Widerhall der antianthropomorphistischen Ausrichtung des lslams sein. Seine dreizehn Glaubensartikel entsprechen gleichen katechetischen Formulierungen im Christentum wie im Islam. Mit der Emanzipation und der Gleichberechtigung der Juden wurde eine Rückkehr zur Geschichtsbetrachtung im Sinne weltlicher Geschichtsforschung notwendig. Es war eine positive Form jüdischer Assimilation.[3] Die Erforschung der Geschichte in ihrer Entfaltung und in ihrer Einwirkung auf die Tradition wurde darum als wesentlich erkannt, weil sie einmal die Entwicklung des Judentums erklären und somit beeinflussen konnte. Zum anderen sah man in der wissenschaftlichen Erforschung der geschichtlichen Entfaltung des Judentums einen Beitrag, den das Judentum zur westlichen Kultur leisten könne. Dieser Beitrag, so hoffte man, würde dem Judentum als Kultur und den Juden als ihren Trägern in der Umwelt Anerkennung und Ansehen verschaffen.
Leopold Zunz (1794-1886), der Vater der Wissenschaft des Judentums, brachte dies zum Ausdruck. Er sah in der jüdischen Literatur eine organische Entwicklung, die mit der Weltgeschichte in Einklang stand, daher von allgemeinem Interesse war und somit allgemeines Verständnis hervorzurufen vermochte. Diese Literatur, so erklärte er, komme allerdings nicht von den Mächtigen der Erde, sondern von ihren Schwächsten. Da die Welt aber anerkennen muss, dass die Juden einen Beitrag lieferten, so muss sie ihnen und ihrem Wirken die geistige Gleichberechtigung zuerkennen. Dies bedeute, dass die Grundlagen dieser Wissenschaft zum Allgemeingut werden, das heißt, als Lehrstühle an Universitäten vertreten sein müssen. Zunz war der Überzeugung, dass dann der Gleichberechtigung des Judentums im akademischen Studium die Gleichberechtigung der Juden in der Gesellschaft folgen müsse.[4] Die Hoffnung, die Zunz hegte, man werde Lehrstühle für die Wissenschaft des Judentums errichten, wurde später unter anderen von Abraham Geiger, dem großen Führer des liberalen Judentums, und schließlich von Hermann Cohen, dem Begründer der neukantianischen Schule zu Marburg, ausgesprochen. Sie hat sich nicht erfüllt. Cohen schrieb: „Es muss daher unser Bestreben werden, die Wissenschaft des Judentums an den Universitäten einzubürgern. Wir wissen, dass der Staat in seiner jetzigen Lage sich nicht dazu entschließen wird, unserem Verlangen zu entsprechen. Er wird es um so weniger tun, als wir darauf bestehen müssen, dass nur Juden die Wissenschaft des Judentums lehren. Das Judentum ist unsere lebendige Religion, nicht ein Gebiet der Altertumswissenschaft schlechthin, noch auch der christlichen Theologie, noch nur der Religionsgeschichte oder der
Religionsphilosophie, sofern beide das Judentum als Vorstufe des Christentums betrachten. Ein Andersgläubiger kann nicht die Wissenschaft einer lebendigen Religion, unserer Religion,
vortragen. Eine lebendige Religion kann nur von demjenigen wissenschaftlich vertreten werden, der ihr mit seiner innerlichen Religiosität angehört [...]“ [5]
Ich selbst habe in meinen Ausführungen zwischen wissenschaftlicher Forschung und lebensbezogener Darstellung unterschieden. Die erstere kann meines Erachtens von Christen unternommen werden, solange sie das Judentum nicht als Vorläufer des Christentums und damit als überholt ansehen, sondern als eine lebendige Religion anerkennen. Das letztere benötigt einen Juden. Da beide Forschungen und Darstellungen notwendig sind, so ist zumindest die Mitarbeit eines Juden notwendig, um dem Judentum und seinen Ansprüchen und gerecht zu werden.
Die Tatsache, dass es keine Lehrstühle für das Judentum gab, bedeutete jedoch nicht, dass man sich nicht mit ihm beschäftigte, allerdings ohne es wirklich zu kennen. So sagte Immanuel Kant (1724-1804), das Judentum sei lediglich eine Gesetzesreligion mit dem Ziel der Gründung und Erhaltung eines Staates, wobei er sich sowohl auf Paulus wie auf Spinoza berufen konnte, vielleicht auch auf Moses Mendelssohn, der ihn ja besucht hatte. Mendelssohn vertrat nämlich die Ansicht, das Judentum sei lediglich offenbartes Gesetz, da die Ethik jedem Menschen bereits durch die Vernunft eingepflanzt sei. Kant verstand aber das Judentum nicht und konnte somit behaupten, dass ein solches Judentum der Definition der ethischen Verpflichtung nicht entspreche, wie er sie sah. Nach Kant schafft der autonome Mensch das ethische Gesetz aus seinem eigenen Willen heraus, während die Juden in bloßer Abhängigkeit von einem gebietenden Herrscher unter einem heteronomen Gesetz stünden. Hatte er das Judentum besser gekannt, so hätte er gewusst, dass es keineswegs eine bloße Abhängigkeit von einem Herrscher bedingt. Soweit das autonome Gesetz in Frage kommt, so hatte er ja selbst nicht gesagt, dass der Mensch das Gesetz aus seinem Willen schaffen, sondern dass er es sich so aneignen muss, als ob es dem eigenen Willen entspränge.[6] Ein wahres Verständnis des Judentums hätte ihn erkennen lassen, dass die Juden aus ihrem Bundesverhältnis mit Gott sich sowohl Gottes Gegenwart wie auch das Gottesgebot so angeeignet hatten, dass es wirklich ihrem autonomen Willen entsprang.
Hermann Cohens Kritik dazu finden wir in seinem Aufsatz „Innere Beziehungen der Kantschen Philosophie zum Judentum“.[7] Cohen weist unter anderem darauf hin, dass nach Kant Gott das „Oberhaupt im Reiche der Sitten“ ist. Daraus ergibt sich nach Cohens Interpretation, dass „die Selbstgesetzgebung der menschlichen Vernunft keineswegs die Bedeutung oder gar die Befugnis (hat), dieses Oberhaupt abzusetzen“. Dies bedeutet, dass selbst nach Kant der Wille nicht autonom das ethische Gesetz schafft. Außerdem weist Cohen auf den Widerspruch bei Kant hin, den Kant aus dem Geist seiner Zeit übernahm, nämlich, dass Gott der „Austeiler der Glückseligkeit“ ist. So beruht die Ethik auf einer Erwartung eines Lohnes. Cohen sucht nun zu zeigen, dass das Prinzip einer von Gott stammenden Ethik, wie sie das Judentum kennt, mit dem der Autonomie des menschlichen Willens in Einklang steht. Nach Cohen ist der Monotheismus im Judentum nur der Monotheismus der Idee. „Das Wesen Gottes ist die Sittlichkeit und nur die Sittlichkeit. Sie ist die Natur Gottes. Die Übersinnlichkeit Gottes ist die Vorbedingung für eine sittliche Wirksamkeit, nämlich als Grundlage zu dienen für die sittlichen Verhältnisse des Menschengeschlechts und der Weltgeschichte. Aus der Einheit des Menschenherzens, die der Einheit Gottes entspricht, entspringt die Ethik, aber Gott ist und bleibt der Urheber und Bürge des Sittengesetzes, (das heißt, autonom)“. (Hervorhebung von Trepp).
Die Messiasidee, verbunden mit dem Glauben an die Reinheit der Seele, die die Freiheit verbürgt, gibt dann den Juden die Gewissheit, dass die Sittlichkeit in der Weltgeschichte verwirklicht werden wird. „Wer an den ewigen Frieden glaubt, glaubt an den Messias; nicht an einen, der gekommen wäre, sondern an den, der kommen soll und kommen wird.“[8] Der Ritualismus, an dem Kant Anstoß nahm, gehört nicht der Religionsphilosophie, sondern der Religionsgeschichte an, er dient der Abwehr und dem Selbstschutz. Er ist daher vom ewigen Wesen der jüdischen Religion zu unterscheiden. „Auf der Richtigkeit unserer sittlichen Ideen beruht unser Recht und unsre Kulturmacht.“ Cohen hofft, dass das neue Weltalter, das mit der französischen Revolution begann, der Sittlichkeit nachstreben werde, und schließt mit der Mahnung an seine Juden: „Verlieren wir nur unsern angestammten, unsern messianischen Optimismus nicht.“ Seine Hoffnung, die bösen Geister würden wieder verschwinden, hat sich leider nicht erfüllt.
Nach Emil Fackenheim ist dem gläubigen Menschen Gottes Gegenwart Urtatsache.[9] Sie geht jeder Aussage über das göttliche Wirken voraus, wie zum Beispiel „Gott liebt den Menschen“. Die Gegenwart Gottes ist da, bevor sein Befehl ergeht. Sie geht seinem Befehl, das heißt, seiner Gesetzgebung, voraus. Gottes Gegenwart setzt jedoch alle bisherigen Grundlagen und Normen der Gesetzgebung, zum Beispiel das Gewissen, außer Kraft. Einzige Grundlage ist die befehlende Gegenwart Gottes. Diese befehlende Stimme Gottes erfordert die menschliche Freiheit, nämlich zur Annahme oder zur Ablehnung. Nimmt der Mensch die befehlende Gegenwart Gottes an, so übernimmt er den Willen Gottes als seinen eigenen. So macht er in der Erfüllung des Gebots der Menschenliebe klar, dass der Nächste von absolutem Wert ist, dass er selbst, als der Erfüllende, von absolutem Wert ist, aber er macht auch klar, dass dies der Fall ist, weil Gottes befehlende Gegenwart ihm dies enthüllt hat. Der Mensch verinnerlicht das Gottesgebot und tritt Gott als dem Offenbarer des Gebotes gegenüber. Die Erfüllung des Gebots ist Anerkennung der gebietenden Gegenwart Gottes. Das Judentum steht in Wirklichkeit außerhalb sowohl der autonomen wie der heteronomen Moralität.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) ist schon darum für uns von Bedeutung, weil er für die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden eintrat. In seinem Werk beschäftigte er sich mit dem Judentum ernsthaft und aufmerksam, so dass jüdische Denker sich mit ihm auseinanderzusetzen hatten. Allerdings fehlte ihm der Zugang dazu, wie das Judentum sich selbst sah. Im Zusammenhang unserer Betrachtung können seine Gedanken nur im Abriss dargestellt werden:
Judentum als These: Für Hegel ist das Judentum eine notwendige Phase in der dialektischen Entwicklung der Religion. Es ist die These in einer Triade: Jerusalem-Athen-Christentum. Es ist das Verdienst des Judentums, die Welt entgöttlicht zu haben. Gott allein ist Schöpfer und Erhalter der endlichen Welt. Eine absolute Trennung besteht zwischen Gott und Welt, einschließlich der Menschheit. Gott hat absolute Macht über seine Schöpfung. Der Mensch erkennt die Güte wie die Gerechtigkeit Gottes an. Er ist sich bewusst, dass er als geschaffenes Wesen dem Schöpfer gegenüber keinerlei Anspruch besitzt. Er muss seine eigene Selbstständigkeit negieren. Zugleich aber muss er diese Negation negieren, und sein Selbst bestätigen, um vor Gott wandeln und zu ihm beten zu können. Gott antwortet gerade darum, weil dieser betende Mensch sich in seiner Geschöpflichkeit an den unendlichen Gott wendet. Hegel sieht diese Gewissheit des Judentums, dass Gott den rechtschaffenen Menschen segnet, als einen grundsätzlichen und bewundernswerten Wesenszug des jüdischen Volkes an. Die Standhaftigkeit oder Starrköpfigkeit der Juden ist ebenfalls ein guter Wesenszug. Gott ist Herr, sie sind seine Sklaven. Daraus entstehen Konsequenzen. Gott ist für die Juden Herr der ganzen Welt, zugleich aber glauben sie, dass dieser Gott sein Wirken auf nur eine Familie innerhalb der Menschheit, nämlich Israel, begrenzt. Darum gab er ihnen sein Gesetz, das ihnen von Moses verkündet wurde. Dieses Gesetz des Schöpfers ist unwandelbar, besitzt absolute Autorität und entzieht sich jeder auf menschlicher Vernunft beruhenden Kritik. Als Gottes Sklaven schulden die Juden diesem Gesetz bis zur kleinsten Verordnung für alle Zeiten absoluten Gehorsam. Jede Änderung am Gesetz Gottes wäre Abfall. Der Dualismus zwischen dem Geist und dem Buchstaben des Gesetzes ist daher Grundlage des Judentums. Der Jude dient Gott in Furcht, und dieser Dienst steht an der Stelle des versöhnenden Einklangs und der Erlösung. Das Judentum ist eine Religion der Abhängigkeit von Gott. An diesem Glauben mit seinen Kontrasten müssen die Juden festhalten, um Zeugnis dafür abzulegen, dass das Göttliche in seiner Universalität und das Menschliche in seiner Partikularität für immer unvereinbar sind. Das jüdische Volk muss sich in einem Standhalten bewahren, das zugleich „Halsstarrigkeit“ ist. Es muss außerhalb der Geschichtsentwicklung stehen. Wahre Religion bedingt göttlich-menschliche Nichtvereinigung. Ohne diese Nichtvereinigung des Göttlichen mit dem Endlich-Menschlichen wird das Unendliche zu einem Endlichen, und dies ist Götzendienst. Dies hat das Judentum verkündet, und darin besteht seine Bedeutung. Wahre Religion bedingt jedoch ebenfalls die göttlich-menschliche Vereinigung. Diese finden wir im Griechentum, Athen, welches somit die Antithese zum Judentum, Jerusalem, darstellt.
Das Griechentum als Antithese: In den Naturreligionen, aber auch im Griechentum ist die Welt von Göttern erfüllt. Hier fühlt sich der Mensch in Welt und Natur zu Hause. Im Griechentum sind Natur und Welt selbst göttlich, die Götter sind vermenschlicht. Der Unterschied zwischen Gott und Welt verschwindet. Der Gottesdienst der Griechen in seiner Schönheit und die Schönheit seiner Statuen sind etwas Göttliches. Die Gesetze der Griechen entstammen zwar dem Geiste eines Lykurgos und Solon, doch gelten sie den Griechen als göttlich. Die griechische Philosophie erhebt sich zum Göttlichen im Reich des Denkens. Das Göttliche wohnt in der Welt wie auch im Verhältnis des Menschen zur Welt. Im Vergleich mit dem Griechentum ist das Judentum in seiner Abhängigkeit vom Gottesgesetz, in der Negation eines menschlichen Gesetzes, das dennoch göttlich sein kann, unfrei. In der griechischen Philosophie sind Göttliches und Menschliches verbunden; daher ist das Griechentum die Antithese des Judentums. Es besteht eine Dialektik. Das Griechentum verkündet die Unfreiheit des Judentums in dessen göttlich-menschlicher Trennung. Das Judentum hingegen verkündet die Begrenztheit des Griechentums in seiner Vereinigung des Göttlichen und Menschlichen, denn die Standbilder sind zwar schon, aber nicht göttlich. In der Philosophie ist die Einheit erreicht, sie verkündet daher ihren Gegensatz zum Judentum. Da die Griechen das Göttliche als immanent ansehen, so können sie das Göttliche entwickeln und in der Geschichte leben. Das Griechentum ist einer historischen, dialektischen Selbstentfaltung fähig, das Judentum ist es nicht. Durch die Philosophie werden die Götter gedanklich entgöttlicht. Das römische Reich übertragt diese Entgöttlichung aufs Leben. Doch kam es im Griechentum und in Rom zu einem weltlosen Gott, wie der Neuplatonismus zeigt. In Rom kam es zu einer gottlosen Welt. Alle Götter, bis auf den Gott der Juden, werden ins Pantheon aufgenommen. Der Jude bleibt unbewegt innerhalb der Welt Gottes, der der Herr dieser Welt ist. Jerusalem und Athen stehen in dauerndem dialektischen Gegensatz, ohne dass eine Weltanschauung die andere überwinden kann.
Christentum als Synthese: Das Christentum hat beide überwunden. Hier verbindet sich der transzendente Gott mit dem immanenten. War im Judentum keiner frei, waren im Griechentum nur einige frei, so sind jetzt alle frei. In seiner Partikularität wird das Christentum universalistisch. Im Christentum wird die Synthese geschaffen. Gott und Mensch
sind in Einklang gebracht. Dies macht Erlösung möglich. Der transzendente Gott der Juden tritt in eine Immanenz hinein, die diejenige der griechisch-römischen Götter übersteigt. Das Göttliche und Menschliche sind in vollkommenen Einklang gebracht. Einerseits erniedrigt sich das Göttliche, indem Gott Fleisch geworden ist, zum anderen erhebt es den Menschen über seine Endlichkeit durch den Heiligen Geist, durch die Überwindung des Todes. All dies wird offenbar in Tod und Auferstehung Christi. Nun werden alle Menschen frei aufgrund dessen, was sie sind, während im Griechentum nur einige frei waren aufgrund ihres Tuns. Das Christentum bringt wahre Versöhnung und Erlösung, während in Jerusalem das Gesetz die Stelle der Versöhnung und Erlösung einnahm. Nach Hegel bedarf eine Theorie der Realisierung im Leben. Daher bleibt die Verwirklichung des Christentums, die Freiheit, die das Neue Testament verbürgt, unvollkommen, so lange sie nicht die ganze Welt umgestaltet hat. Das beweist das Mittelalter. Die Trennung zwischen heiligem Himmel und ungeheiligter Erde blieb bestehen. Die Kreuzzüge bezeugen, dass die Menschen sich zwar auf den Weg machten, um einem heiligen Zweck zu dienen, aber in dessen Verlauf in schwerste Ausschweifungen und Sünden versanken. Erst im Protestantismus erfüllt sich diese Freiheit. Auf alle Fälle sind Judentum und Griechentum anachronistisch geworden; sie haben ihre Aufgabe erfüllt und sind durch das Christentum überwunden. Wie die alten Griechen verschwanden, nachdem ihre Aufgabe im Sinne der Entfaltung des Geistes erfüllt war, so hätten auch die Juden nach dem Fall des Zweiten Tempels ihr Ende finden müssen, denn sie hatten ebenfalls keine Funktion mehr. Das Überleben der Juden trotz Heimatlosigkeit, Verfolgung und Unterdrückung blieb für Hegel ein Rätsel.
Dazu ist kritisch anzumerken: Hätte Hegel das Judentum besser gekannt, so hätte er gewusst, dass das Verhältnis zwischen Gott und Israel nicht auf einer Herr-Sklave-Beziehung, sondern auf einem Bund, einem Liebesverhältnis beruht, in welchem sich Gott dem Volke in immer-neuer Offenbarung seiner selbst zuneigt und ihm Antwort steht. Dies wird bereits im „Hadern“ Abrahams mit Gott um das Schicksal Sodoms (Gen. 18, 20-33) sowie vor allem bei Hiob erkenntlich, der sich gegen Gott aufbäumt. Es hatte ihm bereits aus der Bibel bekannt sein müssen, dass Israel ein Geschichtsvolk mit immer neuen Erfahrungen Gottes ist. Israel sah und sieht sich als Verkünder des Gottesgebotes an alle Menschen an, wie dies in den sieben noachitischen Geboten zum Ausdruck kommt.[10] Den Talmud berücksichtigt Hegel überhaupt nicht. Das Grundprinzip, welches diesem zugrunde liegt, ist die „mündliche Lehre“, das heißt, eine dem Menschen gegebene und der „schriftlichen Lehre“ ebenbürtige und von ihm auf der Grundlage der schriftlichen Tora weiter zu entwickelnde Tradition. „Sie (die Tora) ist nicht im Himmel sie ist uns (zur Weiterbildung) gegeben“, erklären die jüdischen Weisen.[11] So schufen die Rabbinen nach dem Fall des Tempels ein neues Judentum, das mit dem biblischen nicht identisch ist. Versöhnung kommt aus der Gnade Gottes. Der transzendente Gott ist daher zugänglich. Die These-Antithese, Jerusalem-Athen, bestand in Wirklichkeit gar nicht. Seit der Makkabäerzeit finden wir eine Auseinandersetzung mit dem Hellenismus. Gegenüber einer Führerschaft, die bereit war, dem Hellenismus Konzessionen zu machen, erhob sich die Partei der „Frommen“ im Kampf für den Glauben. Sie siegten. Dann aber wurde Athen, nämlich der Hellenismus, vom Judentum absorbiert. Es war den Makkabäern möglich, ein neues Fest, Chanukka, im Namen Gottes einzuführen.[12] Dies folgte einmal dem Brauch der Griechen, neue Feste einzuführen, und war erlaubt, solange es in die Struktur des Judentums eingefügt werden konnte. Darüber hinaus bedeutete es nichts weniger als die Erkenntnis, dass Gott der Interpretation seiner Tora durch Menschen, gemäß den Umständen sich wandelnder Zeiten, seine Zustimmung gibt. Menschliche Verordnungen, wie die der Rabbinen, wurden „göttlich“. So konnten auch die verschiedenen Riten im Judentum entstehen. Beim Anzünden der Chanukkalichter wird der Segen gesprochen: „Gesegnet seist Du, Herr, unser Gott, Herrscher der Welt, der du uns durch deine Gebote geheiligt hast und uns befohlen hast, das Chanukkalicht zu entzünden.“ Obwohl die Anordnung, wie das Chanukkafest selbst, von den Rabbinen kommt, wird Gott dennoch als Urheber des Gebotes gesegnet.
Die Einflüsse griechischen Denkens im einzelnen darzustellen, überschreitet den Rahmen unserer Ausführungen. Denken wir nur daran, dass die Tora ins Griechische übersetzt wurde, dass jahrhundertelang das Werk des frommen Ben Sira nur in der griechischen Übersetzung seines Enkels erhalten war, bis im 19. Jahrhundert die hebräische Fassung in der Genisa einer Synagoge zu Alt-Kairo wiederentdeckt wurde. Viele fromme Juden sprachen eben nur griechisch und konnten kein hebräisch mehr. Darum wurde im Gottesdienst die Schrift sofort in die Umgangssprache des Volkes übersetzt. Gebete konnten auf hebräisch, wie in der Landessprache, also oftmals griechisch, gesprochen werden. Jüdische Denker wie Philon, aus griechischer Philosophie lernend, schrieben ihre Werke auf griechisch. Gleichzeitig lebten sie jedoch als treue, die Halacha befolgende Juden. Wir finden führende Rabbinen mit griechischen Namen. Griechische Logik liegt rabbinischen Diskussionen zugrunde. Sogar die Einführung des allgemeinen Schulsystems mag auf einer Verbindung des Toragebots der Kindererziehung durch den Vater (Deut. 6, 7) mit der platonischen Forderung einer staatlichen Schulung aller Kinder beruhen.
Der Prozess der Veränderung durch menschliche Überlegungen und Verordnungen ist noch nicht zu Ende gekommen, er gibt dem Judentum seine Lebendigkeit. So schreibt Solomon Schechter, dem das Jewish Theological Seminary zu New York seine Rolle als eine führende Lehr- und Forschungsstatte verdankt: „[...] Da die Interpretation der Schrift [...] im Wesentlichen das Produkt historischer Einflüsse ist, die sich ändern, so folgt daraus, dass das Zentrum der Autorität in Wirklichkeit von der Bibel entfernt wurde und in einen „Lebendigen Körper“ gelegt wurde, welcher, da er mit den idealen Aspirationen und den religiösen Bedürfnissen der Zeit verbunden ist, am besten in der Lage ist, die Natur des Sinnes zu bestimmen. Dieser lebendige Körper wird nicht durch eine Gruppe des Volkes vertreten oder eine Priesterschaft oder Rabbinerschaft, sondern durch das kollektive Gewissen eines allumfassenden (er gebraucht das Wort „katholischen“ in Sinne von ‚allumfassend‘) Judentums. Wir dürfen daher ruhig sagen, dass die Synagoge erneut ihr göttliches Recht fordern kann, die Bibel zu beurteilen, wenn immer sie sich berufen fühlt, dieses heilige Amt auszuüben. Gottes Wahl stimmt unweigerlich mit den Wünschen Israels überein. Er tut all die Dinge, über die sich die Ratsversammlungen Israels, die in der Zuversicht der göttlichen Gegenwart und in Kommunion mit ihm zusammentreten, geeinigt haben [...].“[13]
Das Judentum überlebte die Götter Griechenlands und Roms, denn im Judentum war jeder frei. Im Mittelalter und darüber hinaus hatte Hegel das Judentum als Kontrast zur bisher unzulänglichen Entfaltung des Geistes im Christentum sehen können. Die Funktion des Judentums war aber nicht zu Ende. Das Judentum glaubt an den kommenden Messias, d. h. die Welt ist noch nicht erlöst, aber erlösbar. Dies der Menschheit vor Augen zu halten, um damit Geschichte überhaupt möglich zu machen, ist seine Funktion geblieben.
Geschichte wird ja erst dann, wenn die Entwicklung, der Menschheit einem Ziel zustrebt. Da Hegel behauptet, dass eine Theorie der Bestätigung im Leben bedarf, so widerlegt das Judentum in seinem Leben Hegels Theorie. Wir wollen es bei diesen beiden Beispielen dafür belassen, dass es Denker gab, die zu Fehlurteilen über das Judentum kamen, weil sie es nicht
wirklich kannten und darum nur im Licht der eigenen wie der gesellschaftlichen Vorurteile verstehen konnten. Hätte es einen Lehrstuhl für Judaistik an wenigstens einer Universität gegeben, so hätte von dort autoritative Aufklärung kommen können. Wir wollen nicht von denjenigen sprechen, die sich aus Judenhass gegen die Juden stellten. Es gab viele Verleumder: Friedrich Delitzsch, der in seinem Werk „Bibel und Babel“ die Juden beschuldigte, ihre Ideen von den Babyloniern abgeschrieben zu haben, das heißt, ihnen jede intellektuelle Kraft und Originalität absprach. Wir haben Richard Wagner, Eugen Dühring, den Hofprediger Adolf Stöcker und andere. Allen diesen Männern hätte man selbst mit der Autorität eines Universitätslehrstuhls nicht entgegentreten können. Die Juden nahmen allerdings derartige Erklärungen als Herausforderung an. Sie schrieben nicht nur apologetisch, in Verteidigung des Judentums, sondern betonten den Wert und die Notwendigkeit des Judentums für die Welt und ihren ethischen und religiösen Fortschritt.
Von großem Einfluss unter den Judenhassern war der im 19. Jahrhundert weithin anerkannte Historiker Heinrich von Treitschke (1834-1896). Er beschrieb das Judentum in seiner Schrift „Ein Wort Über unser Judentum“ als „die Nationalreligion eines fremden Stammes“, als undeutsch, wertlos und daher zu verwerfen. Er prägte auch das Wort: „Die Juden sind unser Unglück“.[14] Ihm trat Hermann Cohen entgegen.[15] Zwar war er Philosoph, doch sah er sich als solcher als einen berufenen wissenschaftlichen Vertreter des Judentums an. Es gab ja niemanden in der offiziellen Position eines Professors für Judaistik, der mit der Autorität eines Lehrstuhlinhabers den Verleumdern hatte Widerpart bieten können.
Hermann Cohen (1842-1918), der als junger Mann so assimiliert war, dass er die Feier des Schabbats auf den Sonntag zu verlegen vorschlug, fand seinen Weg zum Judentum zurück gerade dank Treitschkes Attacken. Am Ende seines Lebens schrieb er sein großes Werk „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“. Es heißt nicht „Die Religion der Vernunft“, sondern „Religion der Vernunft“. Denn das Judentum ist für ihn eine Religion, nicht die einzige, die als Quelle einer universalen Vernunftreligion dienen kann. Die Kraft des Judentums und seine ewige Funktion in der Geschichte liegen für Cohen in der Idee des kommenden Messias als ewige Hoffnung, durch die die Menschheit zum sozialen Fortschritt angespornt wird. Wir dürfen hier eine Antwort auf Hegels verwunderte Frage sehen, warum das Judentum eigentlich noch existiere. Es existiert, weil es eine Aufgabe hat.[16]
Leo Baeck (1873-1956) schrieb sein Werk „Das Wesen des Judentums“ als Antwort auf Harnacks „Das Wesen des Christentums“. In der Ausgabe von 1905 war es apologetisch, weniger in der Auflage von 1922. Der Geist der Baeckschen Apologetik war aber nicht „Entschuldigung“. Er folgte dem Geist Jehuda Halevis (1086- ca. 1141), des spanisch-jüdischen Dichters und Philosophen, der seinem Werk „Kusari“ den Untertitel „Ein Buch zur Verteidigung einer verachteten Religion“ gab, nämlich des Judentums, dessen wahres Wesen „als Herz im Körper der Völkergemeinschaft“ er darstellen wollte. Baeck überlebte das Ghetto und Konzentrationslager Theresienstadt, dem er hätte entgehen können, hatte er es nicht als seine Pflicht empfunden, bei seinen deutschen Juden als Führer und Tröster in schwerster Zeit auszuharren. Leben und Lernen brachten ihn zu einer neuen Erkenntnis. Das Judentum kann nicht in einer Darstellung des „Wesens“ erfasst werden, denn es ist mehr. „Dieses Volk“ ist ein lebendiges Sein.[17]
Franz Rosenzweig (1886-1929), erwog ernsthaft seinen Übertritt zum Christentum. Seine Entscheidung gegen diesen Schritt kam ihm letztlich aus der Erkenntnis, dass er ihn erst nach einer, wahren Kenntnis des Judentums unternehmen konnte, das heißt, nur als Jude Christ werden könne. Sein Weg führte ihn dann von der äußersten Peripherie zum Kern des Judentums. Statt sich zu habilitieren, wurde er Leiter des jüdischen Lehrhauses, um den Juden zu dienen. In Rosenzweig begegnet uns eine Rückkehr zur jüdischen Geschichtslosigkeit, ein Heraustreten aus der Geschichte, wie wir es unter der Führung Rabban Gamaliels fanden. Da Rosenzweig Hegelianer ist, so ist er wohl auch von Hegels Deutung des Judentums als außergeschichtlich und starr beeinflusst. Aber gleichzeitig widerlegt er Hegel, indem er statt eines Herr- Sklave- Verhältnisses die Liebe Gottes und sein dauerndes Liebesgespräch mit seinem Volk als Grundidee des Judentums deutet und das Hohe Lied zum höchsten Ausdruck dieses Verhältnisses zwischen Gott und Juden erklärt, es damit zum Zentralpunkt der Schrift machend.[18] Für Rosenzweig lebt das Judentum außerhalb der Geschichte, nur sich selbst im ewigen Kreis des liturgischen Jahres. In der Halacha lebend ist es beim Vater. Aber gerade darum ist das Judentum kein Anachronismus, sondern lebendig und vor allem dem Christentum unentbehrlich. Das Christentum hat die Aufgabe, die Welt durch den Sohn zum Vater zu bringen. Aber nur durch das Judentum kann es wissen, dass der Weg zum Vater offen ist und das Ziel gefunden werden kann, denn die Juden haben das Ziel schon erreicht. Judentum und Christentum sind daher einander notwendig, beide von Gott geschaffen und berufen.[19] In seinem Denken, das die Juden aus der Geschichte herausrief, ging Rosenzweig fehl. Die Juden stehen ganz in der Geschichte. Aber selbst das geschichtslose Judentum Rosenzweigs enthält eine Herausforderung an das Christentum. Das Judentum ruft das Christentum auf, die Menschen durch den Sohn zum Vater zu bringen und gleichzeitig zu erkennen, dass dies des Christentums grundsätzliche Aufgabe ist im Gegensatz zum Streben· nach Macht und weltlichem Einfluss, mit Hegels Worten den „Ausschweifungen“, von denen die Geschichte so viel berichtet.[20] Die ganze Entwicklung des neuzeitlichen jüdischen Denkens steht unter der Erkenntnis, dass das Judentum der gesamten Welt etwas Unverzichtbares zu sagen hat.
So schreibt Martin Buber (1878-1965) sein „Ich und Du“ zwar als allgemeine Philosophie für die ganze Welt. Er schöpft die Idee jedoch in hohem Maß aus dem chassidischen Lebensstil des osteuropäischen Judentums. Das Ich und Du zwischen Mensch und Mensch ist zugleich ein Ich und Du zwischen Gott und Mensch. Dies muss die Menschheit vom Judentum lernen. Weil Buber auf sein jüdisches Erbe stolz ist, kann er dann auch von Jesus als „Jesus mein Bruder“ reden.[21] Nur dann, wenn der Jude ganz fest auf seinen eigenen Fundamenten steht, ist es ihm möglich, dem Christentum liebend zu begegnen. Nur wenn das Christentum dieser Liebe entsprechen kann, werden, wie Buber sagt, beide einander noch bisher Ungeahntes zu sagen haben.
Abraham Joshua Heschel (1907-1972), Nachkomme einer der bedeutendsten chassidischen Rabbinerdynastien, östlich wie westlich gebildet, beiden Welten offen, wird nun gerade als Jude zum Lehrer unser aller. Gott sucht den Menschen, jeden Menschen, ist nach Heschel die Grundlehre des Judentums. Gott hat Pathos, das heißt, er ist von jedes Menschen Lebenslage ergriffen, um den Menschen immerwährend besorgt und antwortet ihm helfend in jeder Situation. Gerade in seiner Geschöpflichkeit ruft der Mensch das göttliche Mitgefühl hervor. Geschöpflichkeit macht daher den Menschen nicht zu Gottes Sklaven, wie Hegel glaubte, sondern bewirkt Gottes helfende Antwort. In seiner „Tiefentheologie“ spricht Heschel von dem urgründlichen Religiösen in jedem Menschen. Er spricht vom Staunen angesichts der Schöpfung, das uns zur Erkenntnis des göttlichen Mysteriums führt.[22] Die Bibel ist die wertvollste Gabe, die Juden und Christen der Welt gegeben haben. Das Land Israel und sein lebendiges Volk sind das Echo der Ewigkeit. Gott spricht in vielen Sprachen, daher gibt es viele gleichwertige Wege zu Gott, das heißt, Religionen, die nicht Selbstzweck sind, sondern Wege zu Gott. Als Selbstzweck waren alle Götzendienst. Zusammenwirken in Treue zu Gott ist darum die gemeinsame Aufgabe, denn „keine Religion ist eine Insel“. Zugleich betont Heschel, dass ohne das lebendige Judentum sowohl das Christentum als auch der Islam verdorren würden. Sein Einsatz für andere Glaubensweisen befähigte ihn, Sprecher für die Juden beim zweiten Vatikanischen Konzil zu sein und die Anerkennung des Judentums zu fordern. Er war ein Freund und Berater von Kardinal Bea und maßgeblich an den die Juden betreffenden Beschlüssen des Konzils beteiligt. Aus den Quellen der jüdischen Tradition schöpfend betont Heschel die ethische Tat, die notwendig ist, und widerspricht Kant, nach welchem der Wille den Ausschlag gibt. Darum blieb Heschel nicht lediglich Lehrer im akademischen Raum der Universität, sondern, angetrieben vom ethischen Imperativ der Prophetenbotschaft, wurde er zum engagierten Führer im Kampf der Schwarzen um die Gleichberechtigung, der sich Arm in Arm mit Dr. Martin Luther King an Protestmarschen beteiligte. Hier bezeugte er die Bedeutung des Judentums und seiner Lehre für die Welt. Heschel war ein Mensch von überragender Größe. Das Judentum war im Leitstern, denn er kannte es in allen seinen Aspekten, seinen Lehren, wie in seinen Lebensformen. Zugleich war er mit der Gesamtkultur der Menschheit außergewöhnlich vertraut. Darum ist Heschel gerade als Jude zum Lehrer aller geworden.
Emil Fackenheim (geboren 1916) war selbst Häftling in Sachsenhausen. Er kam nach Toronto, Kanada, an dessen Universität er bis zu seiner Emeritierung als Philosophieprofessor wirkte. Seitdem lebt er in Israel. Das Judentum ist für ihn Lebensaufgabe. Als Philosoph wendet er sich kritisch gegen die Vorurteile der modernen Philosophie gegenüber dem Judentum. Zugleich ist er Theologe. Man kann ihn als den grundlegenden jüdischen Holocaust-Theologen ansehen, denn sein ganzes Denken steht unter dem Einfluss dieses schrecklichen Ereignisses. Fackenheim betont den Bundescharakter des Judentums. Seine Zukunft beruht auf seiner Rückkehr zum lebendigen Gott und seiner befehlenden Gegenwart. Vor allem nach Ausschwitz ist dies unausweichlich. Auschwitz ist das Skandalon ohnegleichen in der Geschichte. Es entzieht sich zwar jeder Deutung, aber eine befehlende Stimme geht von ihm aus, ein 614-tes Gebot nach den 613 der Tora: Juden müssen überleben, um Hitler keinen posthumen Triumph zu gewähren. Sie dürfen weder am Menschen noch an der Welt verzweifeln, sonst unterwürfen sie diese der Macht von Auschwitz. Sie dürfen nicht am Gott Israels zweifeln, sonst ginge das Judentum zugrunde. Fackenheim mahnt Juden und Christen, dass es beiden untersagt ist, Hitler einen posthumen Triumph zuteil werden zu lassen.[23] Juden und Christen müssen darum miteinander sprechen. Gemeinsam müssen beide zum „Tikkun“, zur „Heilung-Wiederherstellung“ der Welt, beitragen, um nach dem Gottesreich zu streben.
Dieses Streben kam bereits in der Nazizeit ins Leben. Im Judentum bezeugen dies die Widerstandskämpfer und die Gefangenen in den Lagern, die durch ihre Treue zu ihrem Glauben der von den Nazis gewollten Entmenschlichung widerstanden. Im Christentum begann der Tikkun durch Menschen wie den Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg, der aus seinem Verständnis christlicher Pflicht heraus täglich im öffentlichen Gottesdienst für die Juden betete, bis er selbst nach Dachau verschleppt wurde und auf dem Wege starb.[24] Tikkun kam durch Menschen wie Professor Kurt Huber, die Geschwister Scholl und andere Mitglieder der Widerstandsorganisation ‚Weiße Rose’, die ihr Leben für die Ideale menschlicher Ethik opferten.[25] Im Dialog des Wortes und des Tuns wird der Weg zum Tikkun weitergeführt. Unsere Darstellung ist unvollständig, denn wir könnten noch viele andere Denker erwähnen. Außerdem konnten ihre Ideen nur sehr kurz skizziert werden. Doch lassen diese Beispiele uns bereits erkennen, dass die jüdischen Denker der Gegenwart sich nicht damit begnügen, das Judentum der Umwelt als ebenbürtig darzustellen. Sie betonen, dass das Judentum und sein Beitrag zur Welt einzigartig und notwendig sind. Sie sind allerdings auch bereit, das Judentum der Kritik der Philosophie auszusetzen.
Im Wandel der Zeit und durch das Wirken jüdischer wie christlicher Denker erfüllte sich tatsachlich jene Hoffnung, die Zunz, Geiger und Cohen beseelt hatte, nämlich die Hoffnung auf die Errichtung von Lehrstühlen für Judaistik an jeder größeren Universität, allerdings nicht in Deutschland, sondern, vor allem, in Amerika. Die Errichtung von Lehrstühlen für Judaistik in Deutschland ist heute, nach dem Kriege, nicht so sehr eine Notwendigkeit für die Juden, sie ist eine Notwendigkeit für das Prestige und die geistige Gestaltung der Deutschen. Das Judentum, wie jede Gemeinschaft, kann auf zwei Weisen erforscht werden: Erstens kann man von seinen Ideen und seinen Lehren sprechen. Und zweitens kann man von der Volksgemeinschaft und ihrer Lebensform sprechen, die die Lehre im Leben bestätigt, um aus dieser Lebensform Erfahrungen zu gewinnen. Das erstere ist die historisch-kritische Forschung, das letztere ist die darstellende Erkenntnis der übergeschichtlichen lebendigen Gesamterscheinung des Judentums.
Das erstere ist uns in Deutschland möglich. So haben wir [....} hervorragenden Hebraisten. Die anderen Kollegen in unserem Fachbereich befassen sich mit dem Judentum, soweit es in ihr Gebiet hineingreift, positiv und lernend. Dies bedeutet, dass sie es als eine lebendige Religion, die sich weiterentwickelt, anerkennen und darstellen und nicht lediglich als eine vom Christentum bereits überholte. Das letztere ist ohne weiteres kaum mehr möglich. Neben der wissenschaftlichen Erforschung des Judentums ist uns die Aufgabe gestellt, die Verbindung mit den Lebensformen der Gemeinschaft, wiederaufzunehmen, also die Vergangenheit aus der Geschichte herauszuholen und mit ihr einen lebendigen Dialog so zu führen, als sei sie noch gegenwärtig. Dies gilt vor allem für das jüdische Leben in Mainz, Magenza, dem Raum, wo jüdisches Sein von Rabbenu Gerschom bis hin zu den Rabbinern Saalfeld und Levi, Lehmann, Bondi und Moses Bamberger zur Einheit verschmolz. Dies in einem gewissen Sinn zummindest symbolisch zu verwirklichen, wird nun meine spezifische Aufgabe sein. Auf Grund des Geschehens, welches uns der lebendigen Gemeinschaft beraubte, wird es nur in begrenztem Maß möglich sein, aber es ist das Beste, dessen wir fähig sind. So werden mir einmal die wissenschaftliche Forschung am Judentum und dazu seine Darstellung zur Verpflichtung. Hinzu kommt als zusätzliche Aufgabe, aus der Erinnerung an eigenes Erleben, das Wesen des einstmaligen jüdischen Lebens zu vergegenwärtigen. So hat, wie es mir scheint, unsere Universität etwas Großes und Einzigartiges getan, das dem Geist Mainzer Geschichte entspricht und aus den Formen jüdischer Überlebensmethoden schöpft. Wir haben, soweit es unsere Gegenwart erlaubt, Forschung im Sinne der Wissenschaft des Judentums mit Lebensüberprüfung im Sinne einer übergeschichtlichen Aussprache mit den Generationen der Vergangenheit und ihrer Halacha, das heißt, ihrem Lebensweg, verbunden.
Wir haben Magenza und Moguntia vereint.
Ich mochte mit einem Wort der Heiligen Schrift schließen:
Gedenke der Tage der Urwelt,
erforschet die Jahre von Geschlecht zu Geschlecht;
deinen Vater frage, der dir's erkläre,
deine Alten, sie sprechen dir zu (Deut. 32, 7).
Gedenke der Tage der Urwelt: Hier ist der Ruf an den Juden. Aus dem Gedenken, der Tradition, kommt das Gebot zur verpflichtenden Tat.
Erforschet die Jahre: Die Erforschung der Geschichte, wie sie sich von Geschlecht zu Geschlecht entfaltete, ist die Aufgabe der Wissenschaft.
deinen Vater frage: In jüdischer Tradition heißt der Lehrer gleichfalls Vater. „Wejaggedcha“ - Er wird zum Interpreten, zum Übermittler der Haggada, indem er die Aussagen der Schrift mit ihren ethischen Forderungen an unsere Zeit und Gesellschaft erhellt.
In dieser Funktion verbindet sich meine Aufgabe mit der meiner Kollegen.
Deine Alten, dass sie sprechen: Zu berichten von dem, was war, wie ich es erlebte, wird dann wohl meine spezielle Verpflichtung sein. Dies, so will es mir scheinen, ist, im Sinne der Schrift, die Synthese, die wir erstreben. Diese Berufung ist für mich eine Bestätigung und Anerkennung meiner Erziehung, der Erziehung eines bewussten Juden im neuzeitlichen Deutschland. Sie beruhte auf einer Verbindung westlicher Kultur mit jüdischer Tradition.
[1] „Der Segen der Assimilation“, Ansprache an die Absolventenklasse des Hebräischen Lehrerkollegs im Jahre 1966. In: Francine Klagsbrun: „Voices of Wisdom“, New York 1980, S. 369 f.; S. auch Zakhor (Anm. 3) S. 85
[2] Yerushalmi, Yoseph Hayim: Zakhor, Jewish History and Jewish Memory, Seattle/London, 1982, S. 5-26, 81
[3] Zakhor, Jewish History and Jewish Memory, S. 85
[4] Leopold Zunz, Zur Geschichte und Literatur, Berlin 1845, S. 21; S. auch: Ismar Schorsch, Thoughts from 3080, N.Y. 1987, S. 27/8
[5] Hermann Cohen, „Jüdische Schriften“, Berlin 1924, Band II, S. 139 ff.
[6] Immanuel Kant, „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, Ausgabe Hartenstein Bd. VI, S. 224
[7] „Jüdische Schriften“ Bd. I, S. 284-305
[8] Cohen, S. 302
[9] Fackenheim kann Cohen nicht folgen, da er Gott als Idee ablehnt
[10] Nach jüdischer Tradition wurden diese sieben Gebote Noah gegeben. Sie begründen den Bund Gottes mit der ganzen Menschheit. Im einzelnen lauten sie: 1. Verbot des Götzendienstes, 2. Verbot inzestuöser Verbindungen, 3. Verbot des Blutvergießens, 4. Verbot der Entweihung des göttlichen Namens, 5. Gebot, gerechte Gerichtshofe einzusetzen und gerecht zu richten, 6. Verbot des Raubes, 7. Schonung aller lebendigen Wesen. (Gen. Rabba 34,8)
[11] Babyl. Talmud Baba Mesia 59 b
[12] 1. Makk. 4, 59, Fackenheim, Emil L., Encounters Between Judaism and Modern Philosophy: A Preface to Future Jewish Thought, Philadelphia 1973. Ich habe Fackenheims kritischen Ausführungen über Kant und Hegel weitgehend zu Rate gezogen und meinen Ausführungen zugrunde gelegt.
[13] Norman Bentwich (ed.), Selected Writings of Solomon Schechter. Oxford 1946, S. 335f.
[14] „Ein Wort über unser Judentum“ ist die Sammlung von Treitschkes antijüdischen Aufsätzen, die ursprünglich in den Jahren 1879 und 1880 in seinen „Preußischen Jahrbüchern“ erschienen und vor allem auf Studenten großen Einfluss ausübten.
[15] Hermann Cohens Antwort unter dem Titel „Ein Bekenntnis zur Judenfrage“ und Einzelheiten über die vorausgegangene Korrespondenz Cohens mit Treitschke und die dem Artikel folgende Kontroverse finden sich in „Hermann Cohen, Jüdische Schriften“, Berlin 1924, Bd. II, S. 73-94. 95-100 und in den Anmerkungen S. 470-472. Zur Entstehungsgeschichte s. Bd. I. S. XXVI ff., wo auch Treitschkes Äußerungen über das Judentum zitiert sind.
[16] „Messiasidee ist die Hoffnung auf die Zukunft der Menschheit“. ... Die Messiasidee erkennen wir sonach wie als Höhepunkt, so als Prüfstein der Religion ...“ Hermann Cohen, Jüdische Schriften, Bd. I, „Die Messiasidee“, S. 105-124
[17] Baecks letztes Werk tragt den Titel „Dieses Volk: Jüdische Existenz“, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1955, 57
[18] Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, 2. Auflage, Frankfurt a.M. 1930, Zweiter Teil, S. 143-151
[19] Franz Rosenzweig, Briefe, Berlin 1935, S. 71ff. In diesem Brief erklärt Rosenzweig auch, warum ihm der Übertritt zum Christentum "nicht mehr notwendig und daher nicht mehr möglich war“.
[20] Über die Gefahren, denen das Christentum ausgesetzt ist, Spiritualisierung des Gottes-, Vergöttlichung des Menschen-, Pantheisierung des Weltbegriffes, und die Gefahren, denen das Judentum ausgesetzt ist, Weltverleugnung, Weltverachtung, Weltabtötung, s. Stern, 3. Teil S. 183f, 189
[21] Martin Buber, Zwei Glaubensweisen
[22] Abraham Joshua Heschel, Gott sucht den Menschen,
[23] Emil Fackenheim, Quest for Past and Future, Boston 1968, S. 125, 143 f., 244 ff., God's Presence in History, New York 1970, S. 84 ff
[24] Emil Fackenheim, To Mend the World: Foundations of Future Jewish Thought, New York, 1982, S. 278-294
[25] ebda, S. 317-331