Gedanken zur interreligiösen Arbeit von Juden - Leo Trepp
Interreligiöse Arbeit als Teil unserer religiösen Aktivitäten ist auf ein Ausmaß angewachsen, dass eine Analyse notwendig scheint, um zu sehen, was sie ausmacht und welchen Wert sie hat. Das Hauptproblem in dieser Frage ist die Überlegung, ob diese Arbeit, so wie sie heute erfolgt, unser spirituelles Wachstum fördert oder nicht. Die folgenden Bemerkungen sollen die erforderliche Analyse nicht ersetzen, sondern zielen darauf ab, ein paar Gedanken zur derzeitigen Situation zu liefern und damit hoffentlich eine Diskussion zu diesem Thema zu eröffnen.
Der Hintergrund
Unsere aktuellen interreligiösen Aktivitäten sind die natürliche und logische Konsequenz eines historischen Prozesses. In all ihren verschiedenen Umfeldern haben die Juden stets ihre eigene Kultur mit der Kultur der jeweiligen Gesellschaft verglichen, in der sie lebten und von der sie ein Teil waren. Sie haben Zivilisationen beeinflusst und sind im Gegenzug von ihnen beeinflusst worden.
Jedoch konnte es, wenn es um die Religion ging, keinen echten Austausch der Gedanken geben, denn die Seiten waren zu unterschiedlich. Während eine Seite alle Macht besaß und sie nutzte, um ihre religiöse Lehre zu verteidigen, hatte die andere Seite – nämlich die Juden –diese Macht nicht. So waren die Dispute, die zwischen Rabbinern und Priestern ausgetragen wurden – oft zum stillen Vergnügen der Herrscher – nichts anderes als eine Farce, denn das Resultat war von der herrschenden Macht schon festgesetzt, bevor die Auseinandersetzung auch nur begonnen hatte. Mehr noch bestand das Ziel nicht darin, ein Verständnis zwischen zwei gleichgestellten Religionen zu schaffen, als gerade darin, eine solche Ebenbürtigkeit zu widerlegen und klarzumachen, dass eine Religion von ihrer Gefolgschaft aufgegeben werden müsse. Um einen bewussten Austausch von Ideen sowie unvoreingenommene vergleichende Studien von Religion zu ermöglichen, mussten drei Voraussetzungen erfüllt werden: Trennung von Staat und Kirche, wissenschaftliche Fortschritte in der Religion und die Tatsache, dass der Wert des Menschen als solcher stärker anerkannt wird.
Es wäre in der Tat erschreckend gewesen, wenn die Entwicklung der Menschheit und der Demokratie vor diesem Problem haltgemacht hätte, und man kann es als gesundes Signal werten, dass der demokratische Geist der Wissenschaft die Denker aller Fasson zu diesem Wissenschaftsfeld geführt hat, um gegenseitiges Verständnis zu schaffen. Und es ist leicht zu erklären, dass Amerika, mit seiner Trennung von Kirche und Staat und seiner freien Forschung, einen fruchtbaren Boden für dieses Unterfangen bot .
Dies gibt den amerikanischen Juden jedoch eine ernstzunehmende Verantwortung. Es stimmt – interreligiöse Aktivitäten sollen freundlichere emotionale Stimmungen und bessere zwischenmenschliche Beziehungen zwischen Christen und Juden schaffen. Doch um dieses hehre Ziel tatsächlich zu erreichen, müssen die Bemühungen auf Wissen und Forschung beruhen. Nur eine wirkliche Kenntnis unserer jüdischen Zivilisation ermöglicht es uns, gleichwertige Partner in dieser Beziehung von religiösen Gruppen zu werden.
Interreligiöse Arbeit von Juden hat zwei Seiten
Die Fülle an Gemeinsamkeiten zwischen allen Glaubensrichtungen erleichtert es, mit Schwierigkeiten in interreligiösen Beziehungen umzugehen, das heißt, wenn man diese Gemeinsamkeiten erst einmal aufgedeckt hat. Die alleinige Motivation der Christen für eine interreligiöse Arbeit sollte der Wunsch sein, das Judentum besser zu verstehen und die Beziehungen zwischen Juden und Christen zu verbessern, es sei denn, wir fügen das wissenschaftliche Interesse hinzu.
Für uns Juden jedoch gibt es noch einen anderen Grund. Natürlich wollen auch wir, mit aller Ernsthaftigkeit, unsere Mitmenschen besser verstehen lernen. Doch wir haben daneben das Bedürfnis in uns, verstanden zu werden. Als kleine Minderheit sind wir uns der Tatsache sehr wohl bewusst, dass unsere Existenz auf diesem Verständnis beruht und auf dem Wohlwollen, das darauf erwachsen mag.
Das erste Motiv kann als etwas Spirituelles angesehen werden. Es erweitert den religiösen Horizont eines Menschen, schleift seinen Charakter, und führt uns zusammen hin zu Brüderlichkeit und somit zum Aufbau einer besseren Gesellschaft.
Das zweite Motiv ist nicht ausschließlich spiritueller Natur. Es handelt sich insofern um ein gutes Motiv, als dass es beabsichtigt, unsere Beziehung zu den Nachbarn auf ein menschliches Fundament statt auf ein rein rechtliches zu stellen. Doch hauptsächlich ist es praktischer Natur.
Während der Christ, den das erste Motiv zum Dialog bewegt, im interreligiösen Austausch geistlich wächst, wird der Jude kein spirituelles Wachstum durch diese Arbeit erlangen, solange er ihre spirituellen Aspekte nicht erkennt und sich durch sie inspirieren lässt.
Es mag zunächst so aussehen, als ob es keinen Unterschied mache, welches der beiden Motive überwiegt, solange die Arbeit an sich getan wird. Doch dem ist nicht so; es handelt sich hier nicht um etwas, bei dem gute Taten, die auf eigennützigen Motiven ruhen, zu den gleichen Taten führen, die allein durch idealistische Überlegungen motiviert sind – nach dem Prinzip „Mitokh shelo lishmah ba lishmah“ („Die Befolgung eines Gebots, auch wenn es aus eigennützigen Motiven erfolgt, führt zu ihrer Befolgung um ihrer selbst willen“).
Das eigennützige Motiv
Unser eigennütziges Motiv ist lediglich, der Welt die Tatsache zu belegen, dass wir Juden wie die anderen sind – in unseren grundlegenden Doktrinen und Prinzipien, unseren ethischen Standards, unserer Teilnahme an interessanten und lohnenswerten Aufgaben und unserem Patriotismus. Dies kann vergleichsweise einfach durch jemand belegt werden, der bereit ist, eine Untersuchung dazu durchzuführen. Alles was er dazu braucht, ist die Kenntnis vergleichender Religionsstudien, außerdem muss er etwas von Statistik und Geschichte verstehen. Die interreligiöse Arbeit kann gut einem Einzelnen oder einigen Wenigen in einer Gemeinschaft anvertraut werden, die diese Arbeit im Auftrag ihrer gesamten Gemeinschaft ausführen und dabei unabhängig von ihr bleiben.
Wenn ein Rabbiner die Aufgabe des interreligiösen Dialogs übernimmt, muss man bedenken, dass sie außerhalb seiner eigentlichen Arbeit liegt, und seine Gemeinde von dieser Art spiritueller Führung wenig mitbekommt. Selbst der gelegentliche Tausch von Kanzel und Bima mit christlichen Vertretern lässt die Gemeinde eher zum Beobachter als zum aktiven Teilnehmer des Dialogs werden; und auch wenn die Gemeinschaft der Juden davon profitieren mag, wäre der spirituelle Gewinn für den durchschnittlichen Juden nur gering.
Es gibt jedoch, neben ihrer Tendenz, den Rabbiner von seiner Aufgabe der als geistlicher Führer der Gemeinde abzulenken, eine weitere Gefahr interreligiöser Aktivitäten, so wie sie allgemein praktiziert werden. Auf der jüdischen Seite können Vertreter sitzen, die weitem nicht genug über das Judentum wissen (und leider ist dies häufig der Fall). Dies birgt die Gefahr, dass wir mit der Zeit eines unserer grundlegenden Prinzipien der gesamten Bewegung au den Augen verlieren, nämlich dem der wissenschaftlichen Forschung. Für den interreligiösen Austausch würde eine solche Entwicklung bedeuten, dass wir erneut zu ungleichen Partnern werden könnten. Dieses Mal geschähe es nicht aus einer Unterlegenheit als Staatsbürger heraus, sondern aufgrund einer Unterlegenheit in unserem aktuellen Wissensstand. Wir müssen realisieren, dass die großen Hochburgen jüdischer Ausbildung im Osten nicht länger existieren und dass wir nun mit den wissenschaftlichen und menschlichen Ressourcen, die uns zur Verfügung stehen, eine jüdische Wissenschaft entwickeln müssen. Wenn wir in dem freien Austausch von Ideen auf Augenhöhe mit unseren christlichen Partnern bleiben wollen, müssen wir eine echte jüdische Wissenschaft entwickeln, nicht nur als Grundstein für den Austausch von Gedanken, sondern auch für das Wachstum und die Entwicklung des jüdischen Geistes.
Während Umfang und Implikationen einer interreligiösen Tätigkeit, die auf praktischen Motiven beruht, uns also sehr wohl mit Besorgnis erfüllen mag, ändert sich die Situation völlig, sobald das spirituelle Motiv überhandnimmt.
Das uneigennützige Motiv
Das Ziel des spirituellen Motivs ist ein Zweifaches. Es zielt darauf ab, denjenigen unseres Volkes, die immer noch unter dem Minderwertigkeitskomplex leiden, den sie aufgrund ihrer jahrhundertelangen Erfahrungen in ihren europäischen Ländern entwickelt haben, Folgendes zu zeigen: Es gibt sehr wohl, jenseits der Grenzen des jüdischen Volkes, Menschen, mit denen eine Zusammenarbeit nicht nur möglich, sondern spirituell bereichernd ist. Zweitens zielt es darauf, denjenigen unter uns, die glauben, dass der Preis einer solchen Zusammenarbeit die Abkehr von ihrem Judentum bedeute, zu belegen, dass das Gegenteil wahr ist. Dann wird diese Arbeit dabei helfen, unsere eigene Gruppe emotional zu stabilisieren und wird somit einen bleibenden Effekt auf das Seelenleben der Juden hinterlassen. Dann wird der Dialog den Juden bewusst machen, dass sie sich ihres Judentums nicht schämen aber auch nicht damit prahlen müssen, sondern es mit der natürlichen Würde eines ausgeglichenen Menschen annehmen können, der sich seines Erbes bewusst ist. Ob dieses Ziel an einem anderen Ort als Palästina erreicht werden kann, ist fraglich, doch es sollte all denen bewusst sein, die sich in der interreligiösen Arbeit engagieren. Wir müssen in diesen Aktivitäten gleichwertige Partner bleiben. Das bedeutet, dass wir nicht nur die gemeinsamen Elemente von Judentum und Christentum hervorheben sollten, sondern gleichermaßen auch die unterschiedlichen Faktoren. Denn nur diese Faktoren verleihen einer Religion ihren unverwechselbaren Charakter, so dass ihr Beitrag zum Gemeinwohl ermessen werden kann. Auf diesen Beiträgen, die keine andere Gruppe so leisten kann, liegt ja der Anspruch der Gruppe auf Anerkennung durch die Gemeinschaft.
Wo auch immer die gelegentlichen Vorteile interreligiöser Arbeit für die Juden derzeit liegen mögen, werden Juden aus ihr nicht eher einen spirituellen Gewinn erfahren, bis sie qualifiziert sind, daran teilzunehmen das heißt, bis Bildung – jüdische Ausbildung – Hand in Hand mit dem Dialog gehen. Ein Jude sollte fähig sein, seinem nicht-jüdischen Nachbarn intelligent, verständnisvoll und mit einer Offenheit gegenüberzutreten, die auf einem Gefühl spiritueller Sicherheit auf der Grundlage von Selbsterkenntnis beruht. Wahre interreligiöse Arbeit ist daher nicht die Aufgabe einiger weniger sondern der breiten Masse, und wenn wir uns von ihr bleibende Ergebnisse erhoffen, so müssen wir unsere breiten Massen ausbilden. Wie auch immer sie sich dann einbringen mögen – auf jeden Fall hätten wir damit auch ihr eigenes jüdisches spirituelles Wachstum gefördert.
Interreligiöse Arbeit, die auf diesen Prinzipien beruht, wird neben dem Erreichen des unmittelbaren Ziels viele wertvolle Ergebnisse hervorbringen. Der Zionismus hat dadurch, dass er die Aufmerksamkeit auf ein gemeinsames Projekt gelenkt hat, mehr erreicht, die verschiedenen jüdischen Gruppen zu vereinen, und parteiliche Voreingenommenheit und Diskriminierung auszumerzen, als jede andere Bewegung. Eine gemeinsame interreligiöse Arbeit mag ganz ähnliche Auswirkungen haben.
Ein tieferes Verständnis der Juden für die universellen und einzigartigen Werte des Judentums würde aus meiner Sicht einen wichtigen Beitrag leisten, das Volk zusammenzubringen. So würde das bessere Verständnis innerhalb der jüdischen Gruppen zu einer Art Nebenprodukt des Auftrags, ein besseres Verständnis unter allen religiösen Gemeinschaften zu schaffen.
Wenn sie im richtigen Geist verfolgt und auf einem geeigneten Fundament gegründet wird, kann die interreligiöse Arbeit uns bei beidem helfen: eine bessere Welt zu bauen und dem Judentum zum spirituellen Wachstum zu verhelfen. Doch wenn sie falsch angegangen wird, könnte sie uns sehr schaden und den Zweck verfehlen, menschliche Beziehungen allgemein zu verbessern. Interreligiöse Arbeit ist eine der großen Errungenschaften unseres Zeitalters, einer der edelsten Erfolge demokratischer Ideen. Wir sollten uns darin engagieren, doch nur so, dass alle, die daran teilhaben, in ihrer Spiritualität und in ihrem Wissen wachsen und sich dadurch qualifizieren, mit anderen für den Aufbau einer besseren Welt zusammenzuarbeiten.