Mordecai Kaplan
Man hat von Mordecai Kaplans Theologie gesagt, dass sie Lücken habe und rigoroser, systematischer Kritik gegenüber Schwächen zeige. Das mag wohl sein, und doch ist sie die erste systematische Theologie, die dem amerikanischen Judentum entsprang und in erster Linie an es gerichtet ist. Dennoch kann sie nicht nur dem amerikanischen, sondern dem Gesamtjudentum dienen.
Die Lücken und auch Widersprüche im Rekonstruktionismus beruhen nicht zuletzt auf der Persönlichkeit des Schöpfers, Mordecai Kaplan. Er ist von Anfang an Lehrer und Führer gewesen und immer geblieben. Sein Streben galt und gilt der Erneuerung des lebendigen jüdischen Volkes als Volk der Ethik. Dabei kam es ihm darauf an, hier und jetzt Wege zu finden, die unmittelbar zur Belebung und Entwicklung der jüdischen Gemeinschaft führen sollten. Ihm steht am Anfang die Tat und nicht die Theorie. Als Mensch hat er durch Güte, verbunden mit tiefstem Wissen, durch Liebe, die dem einzelnen gehört wie der Gesamtheit gilt, und durch absolute Ehrlichkeit des Denkens, die der Kritik und abweichenden Ansicht ihre Recht zuerkennt, ein so erhabenes Beispiel gesetzt, dass seine Schüler zu Jüngern geworden sind, und niemand sich dem Adel seiner Persönlichkeit zu entziehen vermag. Auch der Autor lebt in Ehrerbietung für Mordecai Kaplan als Lehrer, Helfer, Berater, als Jude und Mensch. Ich bewundere seine dem Geiste entspringende Lebenskraft, die ihn im 90. Lebensjahr noch in die Kibbuzim gehen ließ, um dort täglich über die Erneuerung des Judentums zu sprechen und zu lehren.
Mordecai Kaplan hat von seiner Theologie als einer Galilei-gleichen Revolution gesprochen, das macht ihn zum Rebellen. Doch hat er gleichzeitig das ungesprochene Selbstbewusstsein weitester Kreise der Juden, vor allem in Amerika, erschöpft und artikuliert. Das macht ihn zum Träger und Entwickler der sich endlos entwickelnden Tradition des jüdischen Volkes. Die Revolution, von der er spricht, beruht darin, dass er den Kern des Judentums nicht in Gott sieht, sondern in das jüdische Volk verlegt, und dass er das Ziel des Judentums darin sieht, dass seine Glieder ein glückliches, das heißt, sinnvolles Leben führen mögen. Für Kaplan ist das Judentum eine „sich entfaltende religiöse Zivilisation“. Es ist nicht nur Religion, denn es hat ja auch Sprache, Kunst, Literatur, Musik, sogar jüdische Küche und vieles mehr hervorgebracht. Daher ist es Zivilisation. Es ist immer noch in Weiterbildung, daher ist es „evolving“ in allen seinen Formen. Es ist religiös, denn ohne Religion bestünde es nicht. Der Urgrund liegt im Volk. Das Volk entwickelte seine Gottesidee. Es lebt aus einfachem Lebenswillen wie alle Völker. Es ist nicht auserwähltes Volk. Der einzelne steht zum Volk, da er sich nur in einer Volksgemeinschaft geistig-schöpferisch finden und eine Orientierung im Leben erhalten kann. Hier spiegeln sich Ideen des Soziologen Durkheim, der die Volksgemeinschaft als notwendig ansah, damit jeder sich voll entfalten möge. Im praktischen Ziel des Glücklich-Werdens und der inneren Ruhe, die das Judentum seinen Mitgliedern hier auf Erden geben kann, erkennen wir den Pragmatismus von Wilhelm James und John Dewey, auf dem Kaplan – bewusst – ruht.
Zur Vollentfaltung des jüdischen Volkes gehört ebenfalls das Land Israel, Mittelpunkt des Zirkels, von dem, wie die Speichen eines Rades, Erziehung, die gleichgesetzt ist mit Tora, Volksformen und Lebenskräfte einer von außen nicht beeinflussten Gesellschaft hervorgehen. Israel ist zentral, wird als Brennpunkt innerer organischer Entwicklung des jüdischen Volkes angesehen. Hier folgt Kaplan Achad Ha-Am, der das Land als notwendig ansah, damit sich in ihm das Judentum unbeeinflusst von äußeren Bedingungen entwickeln könne. Das Land ist das Zentrum der jüdischen Ku1tur. Den Reifen des Rades formt die Judenschaft in der Diaspora. Auch sie ist nötig. Hier muss die Rationale des Judentums in Auseinandersetzung mit der Welt immer neu gefunden werden. Hier wird die Zivilisation des Judentums durch die sie umgebende Zivilisation ihrer Umwelt beeinflusst und geformt. Dieser Einfluss ist wichtig, die Juden in der Diaspora müssen ihm aufgeschlossen sein.
Von hier strömen wiederum Ideen und Kräfte nach Israel zurück. Eine Zweibahnstraße ist somit geschaffen: Israel – Diaspora – Israel. So wird Entfaltung möglich. Der Jude in der Diaspora muss daher in zwei Zivilisationen leben und aufgehen, in der seines Geburtsstandes oder des Landes seiner Bürgerschaft und der des Judentums. Kaplan spricht daher von den großen Dokumenten Amerikas als „Schrift“, wie auch Tora „Schrift“ ist. Da das Judentum Zivilisation ist, so gehören ihm nicht nur die Gläubigen als vollberechtige Glieder an, sondern alle, seien sie auch ohne Religion des Judentums, die das kraftvolle Überleben des jüdischen Volkes als Zivilisation erstreben und sich schöpferisch oder lernend dem Judentum hingeben. Vor allem das Lernen der jüdischen Erbschaft ist grundlegende Aufgabe aller. Nun sind das jüdische Volk und die Gemeinschaft sehr tief gespalten, vor allem religiös. Kaplan möchte das ändern. Er fordert die organische Gemeinschaft, z. B. die religiöse Einheitsschule in einer Gemeinde, die Zusammenarbeit aller. So wurde er zum Gründer des „Jüdischen Gemeinschaftszentrums" (Jewish Community Center), in dem sich alle treffen und alle Formen der Zivilisation Ausdruck finden. Die weite Verbreitung .der „Center"-Bewegung gibt ihm Recht. Auf einer tieferen Ebene, fragt man einen amerikanischen Juden über seine tiefste Überzeugung hinsichtlich des Judentums, so stößt man bei einer großen Majorität auf Ideen, die durch Kaplan sowohl enthüllt wie auch geformt worden sind, einschließlich des Wunsches zur Einheit: Um die organische Entwicklung einer Gesamtjudenheit nicht zu verlangsamen, bestand Kaplan darauf, dass seine Bewegung nur eine Schule ohne formelle Organisation bleiben müsste. Demnach oder daher sind die meisten amerikanischen Rabbiner von ihm beeinflusst, obgleich manche es nicht wissen und andere ihn ablehnen mögen. Nur in den letzten Jahren, dem Wunsche seiner Gefolgschaft auch seinerseits folgend, hat er es erlaubt, dass Gemeinden mit seinen – aus Arbeitsgemeinschaften entstandenen – Ideen sich formell organisierten. So besteht jetzt eine organisierte Bewegung: Reconstructionism.
Sie verfügt über eine gute Zeitschrift: „The Reconstructionist", hat ihre eigenen Gebetbücher und hat jetzt eine Rabbinische Schule gegründet, die Kaplans Idee gemäß an die Temple Universität in Philadelphia angegliedert ist, damit die Studenten, die in zwei Zivilisationen leben, die grundlegenden, überkonfessionellen Fächer mit ihren christlichen Kommilitonen hören, und nur die speziell jüdischen im eigenen Seminar nehmen. Auch müssen alle ein Ph.D. (Dr. phil.)-Programm an der Universität verfolgen, um sowohl als Rabbiner wie auch als Professoren an Universitäten dienen zu können.
Grundlegend in der Schaffung dieser Organisationen war die Erkenntnis, dass die bestehenden offiziellen Gruppen gegen den Einbau Kaplanscher Ideen Widerstand leisten. So kann nur die eigene Organisation den Weiterbau verbürgen. Gleichzeitig dient sie durch ihren radikalen (zur Wurzel gehenden – „radix") und zur absoluten Ehrlichkeit drängenden Charakter dem Rest als Vorbild, zwingende Motivation zur Suche und Reform. Dem Experiment offen gegenüber, führt sie an, sei es im Gottesdienst, bei Fragen der Mizwa oder bei sozialen Aufgaben. Judentum „entfaltet" sich.
Die Grundfrage, die wir beantworten müssen, um das Konzept zu verstehen, ist die: Warum hat Kaplan diese „Revolution“ unternommen? Und das bringt uns sofort zu Gott … Denn Kaplan erkannte, dass viele sich vom religiösen Judentum abwandten, weil sie in der Tradition Ideen über Gott als Person, über Schöpfung, Offenbarung, Lohn und Strafe, Tod und Auferstehung oder die Auserwähltheit Israels fanden, die sich mit wissenschaftlichen Fakten nicht vereinbaren lassen. Hinzu kommt, dass im jüdischen Gesetz vieles der Gegenwart ethisch nicht mehr entspricht, nehmen wir nur die Stellung der Frau als „zweites Geschlecht". Als Wissenschaftler erforschte Kaplan die Bibel und jüdisches Schrifttum, und ihm war es ebenfalls nicht möglich, die überlieferte Lehre unkritisch zu übernehmen. Das Problem beruhte auf dem Glauben an einen persönlichen Gott, in Orthodoxie mit Verbalinspiration der Schrift verbunden. Es führte zu einer Heimatlosigkeit solcher Juden, die diese Grundanschauungen nicht übernehmen konnten – vor allem der Wissenschaftler, und die sich dennoch als gute Juden bekannten. Kaplan fand sich daher zu einer neuen Gottesauffassung gezwungen, die sich im Praktischen auch auf die Bindekraft des Gesetzes auswirken musste: Gott wurde zur Schöpfung des jüdischen Volkes.
Das Gesetz wurde zum Ausdruck der jüdischen Zivilisation und war daher nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Jedoch ist es laut Kaplan nur gültig, soweit es dem Einzelnen zur Orientierung im Leben dienen kann, und der Gesamtheit als Lebenskraft zur Verwirklichung eines ethischen Volkstums. Jeder Mensch und jedes Volk haben Bedürfnisse, so nach Bekleidung, Nahrung, Beschützung und Betreuung, vor allem nach Orientierung im Leben. Die höchsten und letzten Lebensbedürfnisse und -belange wurden zu Göttern. So entstanden Zeus, Gott der Macht und des Rechts, Athene, Göttin der Weisheit, Aphrodite, Göttin der sinnlichen Befriedigung, und andere. Das Volk schuf die Götter aus seinem Geist, um höchstes Streben nach Erfüllung bildlich und dem einfachen Menschen geistig zu verkörpern. Das jüdische Volk hat das Bedürfnis, sowohl anderen zu helfen (the need to be needed), wie auch menschliche Ethik im vollsten Maße in der Welt zu verbreiten und zu verwurzeln. Daraus entstand das Gotteskonzept eines Gottes, der Ethik gebietet. In der primitiven Religion des alten Israels musste dieser Gott als Person, als Gebotsgeber erfasst werden. Eine andere Auffassung und Darstellung war der Antike nicht zugänglich. In persönlicher Anrede wurde er zum Förderer von Gehorsam, er versprach Belohnung und Strafe und gab denen, die ihm treu waren, Hoffnung aufs ewige Leben und Auferstehung, wenn sie seine Gebote befolgten.
Diese Entwicklung ging über viele Jahrhunderte hinaus vonstatten. Hierbei müssen wir der Wissenschaft folgen, die die Entfaltung des Judentums von primitiven, biblischen Konzepten zur Vollendung in nachbiblischer Zeit verfolgt und beschrieben hat. In Wirklichkeit, sagt Kaplan, wissen wir nicht, was Gott ist, wir wissen nur, dass Gott ist. Hier folgt Kaplan der Idee des Maimonides. Wir können Gott erfassen als die Kraft im Kosmos und damit im Menschen und in der Menschheit, die das Sein, das die Wissenschaft erforscht, in das Sein-Sollen, das die Ethik verlangt, umwandelt. Diese Kraft liegt in Welt und Mensch. In diesem Sinne ist Gott immanent. Der Mensch selbst erlöst diese Kraft in sich, indem er das Ethische verwirklicht. Um für diese Kraft in sich zu beten, ergibt er sich dem Gebet. Die Erlösung ist nicht nachweltlich. Sie ist in dieser Welt, nämlich einer Welt sozialer Gerechtigkeit und persönlicher Moralität. Das jüdische Volk erstrebt, diesen Zustand zu erschaffen. Die Gesellschaft im Staat Israel hat die Möglichkeit, die Ethik als Nation innenpolitisch und außenpolitisch zu verwirklichen. Solange das Volk diese Aufgabe nicht völlig erfüllt hat, ist es kein auserwähltes Volk. Wenn es sie einstmals erfüllt hat, darf es sich so nennen. Andere Völker haben ähnliche Aufgaben und Erwähltheit, doch liegt das Bedürfnis zur Ethik im besonderen Maße in den Juden. Kaplans Theologie ist vom Optimismus durchzogen, dass die Welt dem Ziel zustrebt und es einstmals erreichen wird – solange alle Kraft der Aufgabe zugewandt ist.
Mizwot, vom persönlichen Gott geboten und mit Lohn und Strafe verbunden, waren einst als gottgegeben angesehen. Dem Volk wurden Konsequenzen der Befolgung und Nichtbefolgung ausgemalt, um Gehorsam zu bedingen. In Wirklichkeit sind Mizwot aus dem Volk entstanden, sagt Kaplan. Für uns sind sie als Sancta zu betrachten. Jedes Volk hat Sancta, heilige Symbole, die eine Idee visuell und durch Tat vermitteln. So ist die Fahne eines Volkes ihm Sanctum. Sie übermittelt Geschichte, ruft zur Einheit, weist in die Zukunft, die es zu schaffen gilt. „Mitzvot are Sancta.“ Die Idee des Schabbat enthält die Idee der Menschenrechte mit der Gleichberechtigung in Arbeit, Lohn und Ruhe. Jeder soll und muss am Schabbat ruhen. Rosch Haschana offenbart das Königtum Gottes, das heißt der Ethik, in der Menschheit, die zu erstreben ist. Im Gebet wie in der Erfüllung der Sancta muss der Jude die Idee sehen und Gott als die Kraft in sich und der Gemeinschaft freisetzen, die ihm das Streben nach deren Verwirklichkung ermöglicht. Mizwot, die nicht länger als Sancta wirken, Gesetze, die moderner Ethik nicht entsprechen, dürfen und müssen daher abgeschafft werden – neue Sancta, die dem Leben in zwei Zivilisationen entspringen, dürfen und sollen eingeführt werden.
Die Begrenzung dieses Artikels erlaubt nur einige kurze, kritische Fragen: Wenn Gott als Person auch dem jüdischen Volke entsprang, so wurde er dennoch vom Volk als Person konzeptualisiert. Das hat Kaplan bejaht. Dann ist der transzendente Gott dennoch da. Ist Gott, darüber hinaus, Idee, und strebt Kaplan gegen seine Absicht dem Idealismus zu? Und da das jüdische Volk mit der besonderen inneren Notwendigkeit begabt ist, ethisches Volkstum und Menschentum anzustreben, ist es dann nicht einzigartig – „erwählt“? Kaplan mag darauf antworten, dass andere Völker durch ihre eigene Veranlagung gleichfalls „erwählt“ sind, das hieße, kein Volk ist speziell erwählt. Dennoch ist die Ethik ein so hohes Ziel, dass eine besondere Erwählung des jüdischen Volkes gar nicht bezweifelt werden kann. Weiterhin: Sucht die gegenwärtige Jugend den Ausgleich von Wissenschaft und Religion oder vielmehr Glauben als Hilfe – daher der Existentialismus – selbst wenn es Glaube an Glauben ist? Dann wird sich allerdings der Rekonstruktionismus weiter in dieser Richtung entwickeln können, denn Rekonstruktion ist ja sein Prinzip, und daran arbeitet Kaplan zur Zeit. Schließlich: Können Menschen und eine Gemeinschaft über die in ihnen liegenden Triebe hinauswachsen? Ist der Volks-Gott nicht eben nur Projektion des eigenen Willens? Hat nicht Hitler gezeigt, dass die Vergöttlichung des eingeborenen oder eingezogenen Triebes zur völligen Zerstörung führen kann? Kaplan ruht auf den Idealen der amerikanischen Demokratie, die das Höchste in Synthese von individueller Freiheit und sozialer Gerechtigkeit erstrebt – obwohl sie es noch nicht erreicht hat. Ist seine Theologie zu amerikanisch? Ist sein Humanismus an seinem eigenen Wesen geprägt? Falls dieser Humanismus übertragbar ist, so kann Großes entstehen: ein sich entfaltendes Judentum menschlicher Einheit und sozialer Ethik, wissenschaftsbezogen, Werkstatt hier und in Israel. Dem Durchschnittsjuden in Amerika liegen diese Synthese und diese Hoffnung nahe: Rekonstruktionismus ist im Grunde Volksideologie geworden.
Für Kaplan ist Auschwitz der Menschheit, nicht Gott zuzuschreiben. Die Menschheit wandte sich vom ethischen Ideal ab. Auschwitz ist Kaplan zufolge der zu surrealistischem Terror gewachsene Egoismus der Menschheit. Dieser Egoismus ist auch anderweitig da und zeigt sich beispielsweise in Rassenproblemen und Kriegen und in internationalen Situationen, in denen Israel, trotz aller Nöte, ein Beispiel der Ethik zu setzen sucht. Kaplans Optimismus ist so unvermindert wie seine Tatkraft, die vor allem der Jugend dient, die er lehren und zurückführen möchte.
Streicht man jedoch den Optimismus, dann kommt man zur Theologie Richard Rubensteins, Kaplans Schüler. Auch ihm ist das jüdische Volk die Wurzel des Judentums. Es schuf den Gott der Geschichte, dem die Menschen im ethischen Aufstieg folgen sollten. Auschwitz zeigte jedoch, dass dieses Gotteskonzept falsch war. Der Mensch ist triebhaft das, was er ist. Er ändert sich nicht. Das Gottesexperiment des Judentums war ein 2000jähriger Fehler. So mögen denn die Juden diesen Gott aufgeben, er ist tot – nach Auschwitz. Statt der Linie des historischen Fortschritts zu folgen, mögen sie wieder „Heiden“ werden – im Sinne der Definition von Mircea Eleade. Im Land lebend sollen sie dem Zyklus des Lebens folgen, wie auch dem Zyklus des Jahres, und darin Erfüllung finden. Das tragische Wissen sei ihnen Begleiter, dass die Natur, die Geburt gibt, am Ende ihre Kinder verschlingt. Der Tod allein ist der Erlöser. Das heißt für Rubenstein nicht Aufgeben der Mizwot. Sie sind ja, wie es auch Kaplan sieht, Volksschöpfung. Die archaischen Bräuche sind daher sogar die wertvollsten. So bedeutet das Opfer in früheren Zeiten eine kontrollierte Brutalität, die die Brutalitätsgelüste des Einzelnen im Zaum hält – wenn auch nur für einige Zeit. Man darf daher nicht erwarten, dass etwa der Jom Kippur zu wirklicher Erneuerung wird: der Jude bleibt, was er ist – Mensch, und der Mensch kann sich nicht ändern, er kann nur kontrolliert werden – von Jahr zu Jahr. Das Sanctum ist laut Rubenstein Volksbrauch, es bildet nicht um. Man schließe sich im Leben dem Volk an, wisse von seiner Geschichte, seinen Schöpfungen, erfülle seine Bräuche als Mittel der Identifizierung – so sieht es auch Kaplan. Doch Hoffnung auf die Zukunft einer ethischen Menschheit gibt es bei Rubenstein nicht – das hat Auschwitz gezeigt. Trotz des Pessimismus waren Rubensteins Ideen offensichtlich von denen Kaplans geprägt und wären ohne ihn wohl kaum ins Leben gekommen.
Was ist die Zukunft des Rekonstruktionismus? Falls sich weiterhin die richtigen Führer finden, hat er Lebenskraft. Er befindet sich in einer eigenartig gestalteten günstigen Situation. Entwickelt er sich zur organisierten religiösen Richtung, wird er den Volkscharakter verlieren. Man muss sich ja einer „Denomination“ anschließen. Aber er kann dann durch seine Gemeinden Einfluss in der Gesamtjudenheit bekommen, vor allem wenn die hohe jüdische Menschlichkeit Kaplans von seinen Schülern übernommen wird und auf diesem Weg die Gemeinschaft weiterhin inspiriert. Bleibt er „Schule der Ideen“, so wirkt er dadurch weiter, vor allem durch die hochbegabten Rabbinatsstudenten an seiner Schule, die ja auch zu Professoren herangebildet werden. An ihren jeweiligen Lehrstühlen können sie seine Gedanken fortführen und weiterentwickeln und als Lehrer und menschliche Vorbilder im Judentum in Amerika und vielleicht in der Welt bahnbrechend wirken.