Die Philosophie von Franz Rosenzweig und die des Rekonstruktionismus

Leo Trepp

In unserer vorigen Ausgabe behandelten wir „die spirituelle Biographie von Franz Rosenzweig“, einem der spirituellen Vordenker des deutschen Judentums zwischen den beiden Kriegen, der einen bedeutenden religiösen Einfluss auf die Juden in Deutschland hatte. Der folgende Artikel wirft Licht auf einige der Prinzipien seiner Philosophie für die amerikanischen Leser und stellt diese, mit Blick sowohl auf Ähnlichkeiten als auch auf Unterschiede, denen des Rekonstruktionismus gegenüber. In unserer nächsten Ausgabe werden wir schließlich den letzten Artikel dieser Serie veröffentlichen, der sich mit dem Aktionsprogramm Rosenzweigs auseinandersetzen und es mit dem des Rekonstruktionismus vergleichen wird.

Um die Philosophie Franz Rosenzweigs zu verstehen, muss man sich die Erlebnisse seines Lebens vor Augen führen. Eines der entscheidendsten Erlebnisse war der Krieg. Er war ein jäher Schnitt in seine Lebensgestaltung, der ihn zwang, sich mit Fragen von Krieg und Frieden auseinanderzusetzen, wie auch wir heute wieder dazu genötigt werden. Diese Gedanken beeinflussten seine Sicht auf das Judentum. Man darf nicht vergessen, dass er „Der Stern der Erlösung“ inmitten des Krieges verfasste.

Zu Krieg und Frieden

Warum gibt es Kriege, fragt Rosenzweig und antwortet: Weil sich von allen Völkern der Welt jedes als das auserwählte Volk ansieht. Jedes sieht in seiner Ideologie und in den Prinzipien seiner Regierung die einzigen Wege, die Welt zum Frieden zu führen. Solche Einstellungen mögen nicht immer offen ausgedrückt werden, doch sie sind da, beeinflussen Nationen in ihren Sichtweisen und Haltungen, und offenbaren sich in entscheidenden Momenten. Im Krieg gelangen Völker an den Punkt, an dem sie ihre Existenz und die jeweilige Ideologie verknüpfen. In jedem Volk gibt es auch einen pazifistischen Zug. Auch das muss in der Kriegsführung berücksichtigt werden. Wenn der Wunsch nach Frieden so stark wird, dass die Opferbereitschaft vor ihm verblasst, wird Friede geschlossen. Die kriegsführenden Nationen versuchen jeweils, ihren Gegner mürbe zu machen, bis er dieses Stadium erreicht. Dann kann ein neuer Vertrag zwischen den Ländern geschlossen werden, ein Vertrag, in dem die unterlegene Nation die Idee des Auserwähltseins verwirft und die Prinzipien des Siegers annimmt.

Können ein solcher Vertrag und die Kriegserfahrung als solche Kriege beenden? Rosenzweig sagt: nein. Seiner Meinung nach kann auch der Pazifismus Kriege nicht beenden. Pazifismus nämlich vergleicht Kriege aus seiner Sicht mit körperlichen Krankheiten, die nur geheilt werden können, wenn Konflikte vermieden oder Völker voneinander ferngehalten werden. Diese Vorstellung, sagt er, ist falsch. Die Krankheit eines Menschen mag durchaus mit einfachen Mitteln geheilt werden können. Doch Krieg verändert den Menschen. So wie man durch das Erleben von Freundschaft zu einer freundlicheren Person wird, so wird eine Person durch die Kriegserfahrung kriegerischer. Krieg lasse sich mit trivialen Mitteln – und als solche sieht er die meisten der pazifistischen Ansätze – nicht abschaffen.

Einst gab es Frieden in der Welt, sagt Rosenzweig. Es war der Friede, der existierte, bevor es einen Geschmack von Krieg gab. Es ist der Frieden, den Steine untereinander haben, der Frieden des Paradieses. Eines Tages wird es wieder Frieden geben. Dieser Frieden wird dann kommen, wenn die Menschheit ihren Gang gegangen ist, die Idee des Krieges aus den Seelen der Menschen entfernt wurde, wenn die Menschheit nichts anderes mehr findet als den Frieden. Dies wird in der Zeit des Messias geschehen, in der Zeit des letzten Königreiches. Bis dahin wird der Mensch immer wieder Kriege führen. Er wird sich gezwungen dazu sehen. Solange sich Nationen an der Fülle ihres nationalen Lebens erfreuen und den natürlichen und damit einhergehenden Drang zu Wachstum und Ausweitung haben, werden sie mit dem Dilemma konfrontiert, entweder absolut ethisch zu handeln oder die nationalen Interessen wahrzunehmen. Krieg wird fortwähren, und die Kriege am Ende aller Tage werden nicht mehr ausgetragen, um der Menschheit zu zeigen, wie schrecklich der Krieg ist, sondern um das Schändliche endgültig auszumerzen.

Nur ein Volk, das auf sein normales Leben verzichtet hat, das keine Heimat, keine lebendige Sprache und keine Zukunft hat, kann sich erlauben, den Krieg zu vergessen. Das ist das jüdische Volk. Es hat keine Zukunft, da es am Ende seiner Entwicklung steht. Was auch immer mit dem jüdischen Volk passieren mag – es ist bloße Wiederholung. Es hat keine lebende Sprache, sondern nur eine heilige. Es ist heilig, es hat für diese Heiligkeit mit seinem natürlichen Leben bezahlt. Das jüdische Volk zeigt der Menschheit am Beispiel seines Lebens und Schicksals das ultimative Ziel auf. Wir leben unter uns, aber für die Menschheit.

Dieser Gedanke scheint von den rekonstruktionistischen Ansichten weit entfernt zu sein. Der Rekonstruktionismus will uns von einer unnatürlichen Existenz wegführen und bekräftigt, dass der Jude sehr wohl ein ganz normales Leben führen kann. Der Rekonstruktionismus verbindet sich mit Eretz Israel, wo die Geschichte der Juden neu geschrieben wird.

Doch es gibt Punkte, an denen die Analysen Rosenzweigs und die des Rekonstruktionismus’ übereinstimmen. Rosenzweigs Definition des jüdischen Volkes verdeutlicht, dass er im Judentum eine komplett in sich geschlossene Zivilisation sieht, die so stark ist, dass sie keinerlei Unterstützung von außen benötigt. Es ist eine religiöse Zivilisation und wie wir später sehen werden, eine, die sich, wenn auch nicht in der Theorie, so doch in der Praxis weiterentwickelt.

Juden und Judentum

Für Rosenzweig drückt sich Religion in der Tat aus und nicht nur im Glauben und in der Emotion. Sie wird durch Erfahrung geboren, erwächst zur Philosophie und entfaltet sich schließlich in Handlung und Leben. Religion hebt uns über den Status dahin vegetierender Lebewesen hinaus auf eine Ebene, in der wir Kinder Gottes sind. Es sind nicht wir, die Religion wählen, sondern Religion wählt uns. Kein Mensch kann durchs Leben gehen, ohne mit einer Offenbarung durch Gott konfrontiert zu werden. Doch der Ruf Gottes kann in Konflikt geraten mit dem „Streben nach Glück“, mit dem Wunsch, glücklich zu leben, den wir als einfache Geschöpfe nun einmal haben. Und so versuchen Menschen immer wieder, dem Ruf zu entfliehen, sie betäuben ihren Geist, indem sie sich den Oberflächlichkeiten des Lebens hingeben. Sobald wir aber ernsthaft über unser Leben nachdenken, begegnen wir Gott. Dann erkennen wir auch, dass unser Leben dem, was wir Menschen daraus machen, unwürdig ist. Zwangsläufig muss das erste Wort, das uns im Angesicht Gottes über die Lippen geht, eben diese Tatsache bekennen. Wir haben gesündigt.

Die Antwort auf Gottes Ruf ist das, was wir als Glaube bezeichnen. Der Glaube steht also am Anfang unserer Reise in dieser Welt als Kinder Gottes. Er führt uns zu Taten. In diesem Sinne führt er uns auf den Weg, der zur Erlösung führt. Am Ende des Weges steht die vollkommen gute Tat. Der Weg des Einzelnen und der Menschheit führt von Zwang zur Sehnsucht. Wir müssen uns dazu zwingen, Gottes Ruf zu hören. Haben wir ihn erst einmal gehört, müssen wir uns zwingen, danach zu handeln, denn Glaube ist nicht genug. Bald handeln wir aus einem Verlangen heraus in der Erkenntnis, dass das, was wir tun, gut für uns ist, und das Verlangen schafft wiederum neue Zwänge, die uns weiterbringen. Die Kräfte des Glaubens befinden sich also ständig im Konflikt mit den Kräften des Lebens – auf einer immer höheren Ebene. Glaube führt zur Handlung und Handlung zum Glauben. So schreitet die Menschheit voran.

Da das jüdische Volk seinen Weg abgeschlossen hat, müssen wir lediglich zurückkehren –  die Juden nennen das Teschuwa. Die Kirche führt das Volk zu einer wiederholten „metanoia“, einer Veränderung des Geistes. Diejenigen, die sich immerfort auf neue Ziele zubewegen, sind gezwungen, ihren Glauben ständig zu erneuern. Die Synagoge ruft zur „Teschuwa“ auf. In diesen zwei Worten für Buße wird der Unterschied zwischen Judentum und Christentum deutlich. Zur gleichen Zeit sieht Rosenzweig es als einen Irrtum der Kirche anzunehmen, dass im Glauben allein die Errettung liegt.

Der Rekonstruktionismus kann als eine Teschuwa-Bewegung gesehen werden, die zur „inständigen und unermüdlichen Suche nach Gott“ aufruft, was genau genommen dem Aufruf gleichkommt, Gott zu lieben. Wir finden Gott, indem wir uns mit den Menschen und ihren Angelegenheiten beschäftigen, also durch Taten, und die religiösen Handlungen, die wir traditionell begehen, werden zu Symbolen unserer Aufgabe. Das romantische oder mystische Gottesbewusstsein, sprich, der Glaube allein, reichen nicht aus. Der Rekonstruktionismus hält der Reform vor, den Glauben auf Kosten der Taten hervorzuheben. Was nicht verwunderlich ist. Der Rekonstruktionismus entstand ja als Gegenpol zu dem emotionalen Ansatz der amerikanischen Orthodoxie des Judentums, bei dem Handlung und religiöser Fortschritt ausgeklammert werden und nur deshalb am Bestehenden festgehalten wird, weil es schon immer so gemacht wurde. Wenn der Rekonstruktionismus vom jüdischen Volk spricht, das sich auf eine ideale Zukunft zubewegt, verkündet er letztlich die Idee von Teschuwa, denn jeder Weg hin zu einer Zukunft, die als Idee existiert, bedeutet eine Rückkehr zu dieser Idee. Das Aufkommen verschiedener Denominationen im Christentum würde Rosenzweig mit einem Bedürfnis nach einem neuen Glauben erklären. Demzufolge fordert uns der Rekonstruktionismus nicht auf, einen neuen Glauben oder eine neue Glaubensrichtung innerhalb des Judentums zu kreieren, sondern das Judentum so zu rekonstruieren, dass Glaube und Handlung wieder aufeinander abgestimmt werden.

Es ist wichtig zu betonen, dass der Rekonstruktionismus über keines der Ziele anderer jüdischer Denominationen streitet, genauso wenig wie Rosenzweig. Im Sinne ihrer Begründer sind sie alle Teschuwa-Bewegungen. Sowohl Rosenzweig als auch der Rekonstruktionismus, wollen das Judentum beleben, und zwar zum einen so, dass unser jeweiliges Leben und unsere Taten in Einklang gebracht werden mit den lebendigen Ideen des Judentums, und zum anderen, dass diese Ideen in einer zeitgemäßen Weise formuliert werden. Am Ende dieses Weges steht, was Rosenzweig die vollendet gute Tat nennt. Aus rekonstruktionistischer Sicht wartet am Ende des Weges die „Heiligkeit“, der Zustand, in dem die Wechselbeziehung von Wahrheit, Güte und Schönheit ihren wahren Ausdruck findet. Die Religion muss uns dahin führen, dahin also, die wahren Werte des Lebens anzuerkennen.

Die Rolle Israels in der modernen Welt

Es wird deutlich, dass sowohl für Rosenzweig als auch für den Rekonstruktionismus das Judentum keine Denomination darstellt, sondern eine der großen Unterkategorien der Menschheit ist, wie der Islam und das Christentum auch. Doch Rosenzweig geht weiter. Er sagt: Da die jüdische Persönlichkeit, aus spiritueller Sicht, eine besondere Spezies der Menschheit ausmacht, ist auch das jüdische Volk ein besonderes. Wir sind mehr als ein Volk, so wie der Begriff allgemein verstanden wird, wir sind mehr als eines von vielen ähnlich gearteten Völkern. Gleichzeitig sind wir weniger als andere Völker, denn unsere Eigentümlichkeit zwingt uns dazu, die Ambitionen und den Hunger nach Fortschritt zu verwerfen, die normale Völker charakterisieren. Wir haben weder Land noch Sprache, unsere Augen sind verbunden, wir leben für uns. So ist das jüdische Volk ein Paradoxon: weil wir mehr sind als ein Volk, sind wir weniger, und weil wir weniger sind, sind wir mehr. Allein dadurch, dass wir leben, erinnern wir die Welt an das letztendliche Ziel der Geschichte, zu dem sie sich noch bewegt, und an dem wir uns bereits befinden. Sehnsucht und Zwang sind eins geworden. Dem Judentum mögen die Augen verbunden sein, wie der symbolischen Figur am Straßburger Münster, seine Leute mögen gebrochen sein, doch durch die bloße Existenz erfüllt es seine Aufgabe.

Das Judentum kann aus seiner eigenen Seele heraus leben. Es muss dies sogar tun. Andere Religionen wiederum basieren auf ihm, müssen auf ihm basieren und es zur Hilfe ziehen. Wir müssen die anderen nicht kennen, doch die anderen werden sich mit uns auseinandersetzen müssen. Für Rosenzweig spiegelt sich dieser Gedanke in den Worten Jesajas (55:5) wieder: „Gleichso wirst du herbeirufen manchen Stamm, den du nicht kanntest, zueilen werden sie dir, mancher Stamm, der dich nicht kannte.“ Israel muss sich nicht bewegen, denn die Geschichte bewegt sich zu ihm hin. Das Judentum der Vergangenheit dacht nicht einmal über sich selbst nach, so wie es die nichtjüdische Welt tut. Als die Juden unter sich lebten, hatten sie keine Philosophie, die über das Judentum sinnierte; sie dachten im Judentum, wenn sie „lernten“. Nur aufgrund des Kontaktes zur Außenwelt entwickelten sie eine Philosophie und erkannten, dass es einen Bedarf dafür gab. So wurde das Studium zu einer Form des Gottesdienstes. Die Verbundenheit im „Lernen“ ist dieselbe wie die Verbundenheit der Abendmahlsbesucher im Christentum. Dasselbe trifft zu, wenn es um Taten geht. Der fromme Jude der Vergangenheit sehnte sich danach, das zu tun, was das Gesetz ihm vorschrieb. Der Kreis war geschlossen, es gibt kein Fortschreiten, nur Teschuwa. Israel steht am Ende der Geschichte, andere werden folgen.

Bei der Auseinandersetzung mit Rosenzweigs Gedanken muss bedacht werden, dass dieser vom Judentum als einer Idee spricht. Mitnichten würde er behaupten, dass das heutige Judentum nicht verändert werden könnte oder sollte. Das Judentum, so wie wir es leben, ist nicht perfekt, und sicherlich sind auch die Juden nicht perfekt. Auch wenn sich das Volk als anders, als auserwählt ansieht – der einzelne Jude ist gewiss nicht auserwählt. Und dass Israel eine einmalige Stellung in der Welt genießt, dient allein dem Zweck, den einzelnen Juden psychisch stärker zu motivieren, für Israels Überleben zu arbeiten.

Bei der Bewertung dieser Philosophie und bei ihrer Gegenüberstellung zum Rekonstruktionismus ist es wichtig zu erinnern, dass Rosenzweig seine Gedanken im Verlauf einer Auseinandersetzung mit dem Christentum entwickelte. Auch sollten wir uns der Tatsache bewusst sein, dass die nationale Heimstätte in Palästina in Rosenzweigs Jugendjahren nur ein Traum war. Er musste eine Philosophie finden, die ihn stärken würde, ohne dass er in diesem Traum Zuflucht suchen musste. Rosenzweig sollte später Probleme bekommen, seinen Standpunkt innerhalb des Zionismus – einer immer stärker wachsenden Realität, der er zugeneigt war – abzustecken.  Aus diesem Grund sehen wir zwei Unterschiede zwischen seiner Philosophie und der des Rekonstruktionismus.

Rosenzweig nähert sich dem Judentum aus einer theoretischen und philosophischen Perspektive, der Rekonstruktionismus eher aus einem praktischen Blickwinkel heraus. Für Rosenzweig sieht die Tür zur Zukunft als verschlossen an und muss aus dem Defizit eine Tugend machen, darum seine Idee eines unveränderbaren Judentums. Für den Rekonstruktionismus steht die Tür offen. Das palästinensische Judentum kann sein eigenes Leben nach seinen eigenen inhärenten Gesetzen leben, und solange ein Teil des Volkes dies tun kann, ist das Volk als Ganzes frei, denn alle werden davon beeinflusst. Die einzige Antwort, die Rosenzweig daher finden kann muss schließlich diese sein: Es muss Gottes Wille gewesen sein, dass unser anormaler Staat uns normal erscheint. Die gleiche Philosophie finden wir in Beer-Hofmanns „Jakobs Traum“ wieder. Der Rekonstruktionismus hingegen kann von dem jüdischen Volk als einem normalen Volk mit einer langen Geschichte und von seinem Streben nach einer schöpferischen Zukunft sprechen. Dass die jüdische Heimstätte Wirklichkeit wird, gibt dem rekonstruktionistischen Ansatz mehr Optionen.

Für die Juden in der Diaspora ähnelt das Programm des Rekonstruktionismus dem von Rosenzweig sehr. Doch dazu gibt es den Beitrag des palästinensischen Judentums. Auch Rosenzweig hat sich intensiv mit dem beschäftigt, was von Zion kommt, doch für ihn war es, wie erwähnt, ein Traum. Aufgrund  dieses unterschiedlichen Ausblickes und dadurch, dass es sich um eine amerikanische Philosophie handelt, legt der Rekonstruktionismus aus Sicht des einzelnen Juden den Fokus auf Teilhabe an der allgemeinen Zivilisation. Durch diese wird er in seinem eigenen jüdischen Leben vorangebracht. Ein Jude in Deutschland konnte diesen Wunsch nicht zum Teil seiner religiösen Philosophie machen, denn sein Status war dazu nicht sicher genug. Letzten Endes beschäftigt sich eine Philosophie mit beständigen Werten. Sich daran zu beteiligen wird für den Zionisten einfacher, denn er läuft nicht Gefahr, sich selbst zu verlieren – eine Gefahr, die für einen liberalen Juden im vor-zionistischen Zeitalter sehr real war. Auf der anderen Seite fehlt dem Rekonstruktionismus als eine auf gesundem Nationalbewusstsein ruhende Denkrichtung die zentrale Gottesausrichtung, so wie sie Rosenzweigs Philosophie vorsieht. In der Philosophie Rosenzweigs ist Gott das Zentrum und der einzige stabilisierende Faktor im Leben, für den Rekonstruktionismus liegt dieser in Eretz Israel. Für Rosenzweig wird Religion zu dem treibenden und führenden Einfluss, aus rekonstruktionistischer Sicht ist sie nur ein Einfluss.

Trotz dieser Unterschiede jedoch sind Rosenzweigs praktische Ideen zur Wiederbelebung des Judentums identisch mit denen des Rekonstruktionismus, und wir werden sie als identisch erkennen, wenn wir uns ihnen nun zuwenden.

Herrschaft und Gesetz

Vor der Emanzipation waren Gesetz und Herrschaft genau genommen eins. Die Juden wollten tun, was das Gesetz ihnen vorschrieb. Nun jedoch muss derselbe Prozess – nämlich, dass sich aus einem Druck, einem Gesetz, ein Wille entwickelt, der dann in die Welt ausstrahlt – mit allen Beschränkungen wiederholt werden, die das gegenwärtige Judentum mit sich bringt. Aus konfessionellen Juden, christianisierten Juden und Juden, die nur noch halb dabei sind, müssen wir wieder ganzheitlich Juden werden. Dies ist das Hauptproblem, sowohl für den Rekonstruktionismus als auch für Rosenzweig. Wie aber kann es gelöst werden?

Das Gesetz, so wie es uns überliefert wurde, kann dabei helfen, argumentiert Rosenzweig. Es fordert uns heraus, nicht blind zu folgen, sondern es als Ausgangspunkt für eine Selbstüberprüfung anzusehen. Wir müssen uns neu damit auseinandersetzen. Gleichermaßen fordert der Rekonstruktionismus zu einer Neubewertung auf. Bei einer Neubewertung unserer Tradition müssen wir uns darüber im Klaren bleiben, dass unsere Aufgabe nicht darin besteht, das Gesetz zu erhalten, sondern das Judentum. Das Judentum aber wird nicht erhalten, wenn wir unsere Augen davor verschließen, dass der Erneuerungsprozess einer Zeit [D1]  mit dem Prozess der Zeit an sich Schritt halten muss. Wenn wir uns weigern uns zu entwickeln, werden wir sterben. Demnach kann ein Jude Rosenzweig zufolge ein bestimmtes Gesetz nach eingehender Analyse ablehnen, wenn er zu dem Entschluss kommt, dass dieses Gesetz ihn nicht jüdischer macht. Ein solcher Jude sei womöglich besser als jemand, der sich strikt an alle Gesetze hält, ohne darüber nachzudenken. Die Entscheidung hänge vom Einzelnen ab.

Unsere heutige Generation hat eine schwierige Entscheidung zu treffen. Sie kann ohne das Gesetz leben, doch dann wäre ihr Leben jüdisch gesehen sinnlos. Sie kann sich strikt nach den Vorgaben des Gesetzes richten, doch das würde eine völlige Verleugnung des Lebens erfordern, die der heutigen Generation nicht möglich ist. […] Der Schulchan Aruch hat seine Wirkungskraft bewiesen. Welchen besseren Beleg gibt es dafür als die Tatsache, dass Menschen eher ihr Leben gaben, als gegen die Gebote zu verstoßen? Doch weil die Menschen so etwas heute nicht tun würden, kann nicht alles im Schulchan Aruch als unerlässlich angesehen werden, so Rosenzweig. Ein völliges Bekenntnis zum Gesetz wäre für das Volk in unserer heutigen Zeit riskant. Es würde lediglich zu einer mechanischen Befolgung der Gebote führen und nicht zu einer Aufnahmebereitschaft der Seele für Gottes Gebot. Für uns gibt es nur einen Weg, nämlich langsam zu einem besseren jüdischen Bewusstsein zu gelangen, uns von Erfahrung zu Erfahrung zu bewegen, bis unsere Persönlichkeit wieder in das Judentum hineinwächst.

Wie die rekonstruktionistische Bewegung steht auch Rosenzweig für eine Denkrichtung. Er legt kein konkretes Programm vor, das besagt, was zu befolgen und nicht zu befolgen ist, sondern gibt eine Richtung vor. Wie der Rekonstruktionismus sieht er die Befolgung von Tradition nicht nur als ein Gemeinschaftsbedürfnis, sondern auch als Element individuellen spirituellen Wachstums und einer Erfüllung, die dem Bedarf der Zeit entspricht. Aus dieser Einstellung heraus entwickelt er seine Kritik der Orthodoxie wie auch des liberalen Judentums. Eine Kritik, deren Argumentation einer ähnlichen Linie folgt, die auch für die entsprechende Kritik des Rekonstruktionismus maßgebend ist.

Orthodoxie, sogar die Neo-Orthodoxie von Samson Raphael Hirsch, basiert auf dem Prinzip des „Alles oder Nichts“. Für Rosenzweig ist dies nicht nur willkürlich, sondern auch eine zu einfache Lösung. Sie ist zu begrenzt und berücksichtigt nicht die Tatsache, dass das Gesetz im Judentum einen historischen Prozess darstellt. Und sie ist zu einfach, weil sie von uns lediglich erwartet, den Buchstaben des Gesetzes zu folgen. Dies wäre die einzige Bedingung für ein jüdisches Leben. Was immer im Gesetz nicht verboten ist oder was vom Gesetz gar nicht behandelt wird wäre demnach erlaubt. So werden wir zu gespaltenen Persönlichkeiten: wir befolgen das Gesetz und führen ansonsten ein unjüdisches Leben, sowohl im Bewusstsein wie auch in der Tat. Unsere Alternative muss anders formuliert werden, es kann keine Alles-oder-Nichts-Lösung sein, wir brauchen eine „Nichts-oder-Etwas-Lösung“. In der Tat war dies das Aktionsprogramm des jüdischen Liberalismus im 19. Jahrhundert, doch der Liberalismus versagte, er verlor sich in seinem Elfenbeinturm der Programme und vergaß das Leben. Er hatte zu viele Offiziere, die Plänen entwarfen, und zu wenige Soldaten, um sie umzusetzen.

Rosenzweigs Kritik basiert auf seiner Analyse von Philosophien, sowohl der Neo-Orthodoxie als auch des Liberalismus. Die vom Rekonstruktionismus vorgebrachte Kritik beruht auf der Analyse des Lebens, das Leben derer, die von diesen Philosophien geformt wurden, aber auch von den Unwägbarkeiten des praktischen Lebens. Am Ende münden beide Analysen in dasselbe Ergebnis. Es wird am deutlichsten im Rekonstruktionismus, der Beispiele aufführt, wie sie sich heute überall im alltäglichen Leben beobachten lassen. Die Mehrheit der Neo-Orthodoxie bewegte sich von einer praktischen Befolgung zu einer „theoretischen“ Befolgung, was letztlich ein Lippenbekenntnis zum Gesetz bei gleichzeitiger Nichtbefolgung bedeutet. Dies bedeutet aber wiederum, dass „ihr Glaube für ihr Leben nicht mehr funktioniert“. Es war der Neo-Orthodoxie nicht möglich, den Trend hin zur Desintegration einzudämmen. Der Rekonstruktionismus sieht den Grund dafür in der Rigidität, was der Erklärung Rosenzweigs entspricht, der in der Neo-Orthodoxie mehr den Befehl zur Gesetzesbefolgung sieht als ein vollständiges Versenken in das Judentum, eine ganzheitliche Auseinandersetzung. Wenn das Gesetz das alleinige Element des Judentums ist, muss es strikt sein. Während Rosenzweig mit seinen Beobachtungen der Neo-Orthodoxie, wie sie in Deutschland praktiziert wurde, nicht gerecht wird, so treffen seine Äußerungen auf das heutige Leben zu und werden erhärtet durch Beobachtungen von Vertretern des Rekonstruktionismus.

Der Rekonstruktionismus kommt auch in Bezug auf das liberale Judentum zu denselben Ergebnissen wie Rosenzweig. „Die Theologie der Reform ist (in ihrer ursprünglichen Form) belanglos, da sie darin versagt, Religion als etwas anzuerkennen, dass sich im Kontext einer Zivilisation ausdrückt.“ Die Reformbewegung ging von ihrer eigenen Prämisse aus. Sie konzipierte die Idee darüber, was den Juden ausmacht und verbindet, im Elfenbeinturm der Mutmaßungen und Erwartungen und vergaß bei allem Ausformulieren der Programme den Juden, so wie er ist. Erst der Zionismus hat die nationalistische Strömung innerhalb der Reform dazu gezwungen, ihren Standpunkt mit den Lebenswirklichkeiten abzustimmen. Doch die Kritik am klassischen Reformmodell teilt der Rekonstruktionismus nach wie vor mit Rosenzweig.

Die Dynamiken des Judentums

Somit sehen wir uns eine äußerst schwierigen Aufgabe gegenüber. Wir halten in den Händen, wie sich das Gesetz entwickeln wird. Wir müssen vorwärts gehen, sagt Rosenzweig, und dürfen doch die Verbindung zur Vergangenheit nicht verlieren. Es ist zu schaffen, wenn wir uns mit dem Projekt mit Leib und Seele nähern. Wir müssen vorwärtsdrängen und gleichzeitig zurückblicken. Wir müssen handeln, jetzt und hier. Konkreteres kann Rosenzweig dazu nicht sagen. Wenn er es täte, würde er ein neues Programm aufsetzen, sein eigenes Programm, das damit umgehend sowohl die Aufgabe als auch das Ergebnis eingrenzen würde. Doch so wie es ist, stellt er den Einzelnen vor eine nahezu unmögliche Herausforderung. Der Rekonstruktionismus hat stets zur Tat aufgerufen. Und er ist weiter gegangen als Rosenzweig. Er hat sich zu einer Art Führer für den jüdischen Gebrauch entwickelt, er hat ein Gebetsbuch herausgegeben, eine Haggada und mehr. Dadurch hat er theoretisch die Notwendigkeit einer konkreten Anleitung anerkannt. Und sah sich sofort der Kritik ausgesetzt, er habe ein eigenständiges Programm entwickelt und sei eine Denomination geworden.

Wenn wir Rosenzweigs Ideen und die praktischen Erfahrungen des Rekonstruktionismus vergleichen, scheinen wir uns dem Kernproblem unserer gegenwärtigen jüdischen Situation anzunähern. Rosenzweig gibt nicht genug, der Rekonstruktionismus gibt „zu viel“, zumindest, soweit es die breite Masse anbelangt. Die Lösung – wenn eine persönliche Anmerkung an dieser Stelle erlaubt ist – scheint in einer aktiven Kooperation von Rekonstruktionismus und Konservativismus zu liegen, bei der der Rekonstruktionismus die Denkschule wird und als solche schnell voranschreiten darf und die konservative Gruppe die Einrichtung wird, die die praktischen Umsetzungen betreut. Der Konservativismus müsste nicht aufhören, eine Denkschule zu sein, noch müsste sich der Rekonstruktionismus versagen, praktische Ideen voranzubringen, doch beide würden einander ergänzen. Der Konservativismus würde sich langsamer entwickeln und sich doch zu einem Ziel hin bewegen.

Die Bedeutung, die Rosenzweig in die bewusste Planung unseres Lebens als Juden legt und in die Selbsthingabe zum Judentum, so wie wir es verstehen, wird im folgenden Zitat deutlich. Sowohl auf den Einzelnen wie auch auf die Gruppe als Ganzes bezogen sagt er:

„Einmal mehr wurde die Entwicklung des Gesetzes in unsere Seelen und Hände gelegt. Keiner hat das Recht, uns vorzuschreiben, was zu ihm gehört und was nicht. Da nur wir es sind (die handeln), können wir unserem Willen eine Richtung vorgeben. Wir haben keine andere Garantie, dass unsere Tat, wenn sie zustande kommt, wirklich jüdisch ist. Und dennoch ist es ein neues Gesetz, unser Gesetz von heute, das damit geschaffen und damit zu dem Gesetz wird. Denn dies war es, was wir vermisst haben und mit Recht vermisst haben im Gesetz, das uns unsere heutigen Vertreter vorlegten: Es war das alte Gesetz, aber es war nicht gleichzeitig neu. Diese Lücke wurde erst erkannt, als ab einer gewissen Grenzlinie auch das Leben von heute zu einer Option im Judentum wurde. In der alten Manier wurde dem Leben seine gegenwärtige Aktualität abgesprochen. Vergessen war der Mut, mit dem Moses zu einer Generation sprach, die noch nie am Sinai gestanden hatte: ‚Nicht mit unseren Urvätern hat Gott diese Vereinbarung getroffen, sondern mit uns, uns hier, heute, jedem von uns, den Lebenden.‘ Angesichts solcher Kühnheit müssen wir Stellung beziehen. Doch wir kennen die Grenzen nicht. Dass die Zeltstangen der Tora ausgeweitet werden müssen, und zwar durch uns – das können wir als sicher erachten.“

Somit erkennt Rosenzweig an, dass es, sobald wir uns in Bewegung setzen, kein Halten mehr geben könnte. Aber besteht dann nicht Gefahr, dass wir die Grenzen des Judentums überschreiten? Allein die Tatsache, dass wir all das als Juden für das Judentum unternehmen, gibt uns die Garantie, dass unsere Bemühungen nicht darin münden werden. Nun erkennen wir den Ernst der Aufgabe. Sie muss von Juden ausgeführt werden, die im vollen Bewusstsein ihres Jüdischseins leben, und wir müssen es unternehmen mit all unserer Seele. Die Alternative, einfach am Bestehenden festzuhalten, wäre für ihn die schlechtere Wahl. Wir können nicht denselben Weg zurückgehen, weder in Gedanken noch in Taten. Doch wir müssen mit unserer Vergangenheit in Verbindung bleiben.

„Es gibt einen besonderen Moment im Leben des Geistes“, sagt Rosenzweig, „wenn er ohne Gefahr zurücksehen kann und es sogar gut sein mag, es zu tun. In allen anderen Fällen kann die Rückschau zum geistigen Selbstmord werden. Wie können wir beide voneinander unterscheiden? Das Leben des Geistes ähnelt dem Fluss des physischen Lebens so sehr, dass auch der Geist sich unablässig von abgestorbenen Teilen befreit. Das ist der Preis für seine ewige Wiedergeburt: jede Geburt wird mit einem Tod bezahlt. Unter manchen Bedingungen werden die toten Teile lange Zeit im Strom mitgetragen, und nur zufällig driften sie manchmal an das Ufer. Da der Strom des Geistes nicht in allen seinen Teilen eine gleich schnelle Strömung hat, sprudeln manche Wellen mit, während andere nur langsam folgen. Daher ist es gut, wenn diejenigen, die vorausgeeilt sind, von Zeit zu Zeit anhalten, sich umsehen und auf die warten, die zurückgeblieben sind. Dies ist ein gesunder Prozess, um den Kontakt mit dem Ganzen zu halten. Das ist es, was wir als Besinnung für den Einzelnen und für die spirituelle Gruppe ansehen. Doch die Gefahr des Zurückschauens ist, dass wir den Unterschied zwischen den toten Teilen, die nur noch mitgetragen werden, und den langsameren Strömungen mit lebendiger Substanz nicht erkennen, die noch eine größere Nähe zur ursprünglichen Quelle hat. In dem Fall könnte die Konsequenz sein, dass die toten Elemente, die für lebendig gehalten werden, den Strom verstopfen. Er stagniert. Es ist essentiell für den Geist, das Tote vom Lebendigen zu unterscheiden.“

Die Gefahr, dass wir uns aus dem Judentum hinausbewegen, existiert aus rekonstruktionistischer Sicht nicht. Rosenzweig begann von außen und wusste nicht wo er letztlich ankommen würde. Der Rekonstruktionismus näherte sich dem Judentum von innen heraus und wird somit darin gehalten. Zudem sieht der Rekonstruktionismus im Zionismus eine Garantie, dass es im Laufe seiner Entwicklung das Judentum nicht verlassen kann. Letzten Endes, so Rosenzweig, muss der Einzelne die Entscheidung fällen. Er kann dies nur aufgrund seines Wissens tun. Daher schuf Rosenzweig einen Bildungsplan. Er analysierte die Situation, benannte das Ziel der Ausbildung aus seiner Sicht und entwickelte ein praktisches Aktionsprogramm für Jugendausbildung, Schulungen für Leiter von Programmen und Erwachsenenbildung. Der Rekonstruktionismus hat den gleichen Weg eingeschlagen, in dem Bewusstsein, dass es jüdische Wissenschaften sein müssen, die den Juden auf die Probleme vorbereiten, mit denen er sich konfrontiert sehen wird.

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