Eine Slicha für den Holocaust

Obgleich dieser Text für Menschen, die sich mit den beschriebenen Praktiken nicht auskennen, schwer zu verstehen ist, fand ich es wichtig, ihn aufzunehmen. Es war Leo Trepp immer ein Anliegen, den Holocaust nicht als etwas zu sehen, was den Juden zur Identitätsfindung dienen kann, sondern als Kulmination der Verbrechen, die durch die Geschichte gegen das jüdische Volk begangen wurden. Sie wurden allesamt geboren aus einem irrationalen Antisemitismus, den die Juden unfähig sind zu beeinflussen. Darum, so Trepp, sei die Aufgabe, die das jüdische Volk nach dem Holocaust habe, dieselbe, die es nach den Kreuzzügen gehabt habe: Dem Bund treu zu bleiben, Kraft aus ihm zu schöpfen, und am Ende in der Gemeinschaft stärker zu sein als vorher. Mittlerweile gibt es von verschiedenen Seiten Bestrebungen, den Holocaust in eine jüdische Erinnerungskultur zu integrieren. Dies ist einer der frühen Versuche. Trepp schrieb den Aufsatz im Jahr 1986 für das amerikanische Magazin „Judaism“.

Alle Begriffe werden im Glossar erklärt. Die Übersetzungen der Slichot habe ich dem Gebetbuch für den Versöhnungstag, herausgegeben von Wolf Heidenheim, entnommen, das aus Trepps Jugend stammt, und das er wohl selbst benutzt hat für seine Übersetzung ins Englische. Herr Professor Matthias Morgenstern aus Tübingen hat mich auf diese Quelle hingewiesen, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Eine adäquate Übersetzung der beiden Kinot habe ich nicht gefunden, so dass ich diese frei übersetzt habe, so wie Trepp sie frei ins Englische übersetzt hatte. In der ersten Kina betrauert Rabbi Meir von Rothenburg bitterlich die Zerstörung Tausender von Talmudbänden und anderer heiliger Bücher in Paris im Jahr 1240. Es mag manchem Leser merkwürdig erscheinen, dieses Klagelied in einer Reihe mit solchen zu sehen, in denen die Schreiber weinen um Menschen, die von anderen Menschen zerfleischt, verstümmelt und verbrannt wurden. Doch nicht nur war die Tora den Juden das Zentrum eines Glaubens, für den sie zu sterben bereit waren – Bücher, wie Heine sagte, haben den Juden über die Jahrhunderte Geborgenheit und Schutz gegeben.

Dies ist ein persönliches Zeugnis, in dem Erinnerung und Nachforschungen ineinander übergehen. Zuweilen ist es ein Geständnis. Es ist ein Zeugnis meiner Suche nach einer Slicha für den Holocaust. Es ist persönlich, denn es spiegelt zwei Wünsche: eine Slicha zu finden, die für alle Richtungen der jüdischen Religion akzeptabel ist und für sie Worte zu finden, die von den Märtyrern selbst gesprochen worden sein mögen, als sie noch am Leben waren. Eigentlich münden beide Wünsche in einen. Um die gesprochenen Worte derer zu finden, die ihr Leben zur Heiligung des göttlichen Namens hingaben, musste ich zunächst nach traditionellen Quellen suchen – Quellen also, die wohl von allen religiösen Juden akzeptiert würden. 

Diese Quellen habe ich in den Slichot von Jom Kippur gefunden sowie in den Kinot von Tischa B’Av. Doch im Verlauf der Suche habe ich einige Entdeckungen gemacht, die ich gerne teilen würde.

Die Suche

Die Eigenschaften von S’lihot: Slichot und Kinot sind Pijjutim und litten somit unter unserer Einstellung gegenüber diesen nicht verpflichtenden Gebeten in unserer Liturgie. Sie waren die ersten, die gestrichen wurden. Man kann ebenfalls argumentieren, dass ihr Vokabular kompliziert war und ihre Bedeutung schwer zu durchdringen – sie setzten voraus, dass der Leser die Tora midraschisch interpretieren konnte. Einige Pijjutim wurden von inspirierten Dichtern verfasst, andere wiederum von den Chasanim, die den damaligen Stil der umliegenden Kulturen nachahmten.

Jedoch bin ich auch auf andere gestoßen, besonders bei der Gezerot-Liturgie, die ich untersuchte; Dichtung, die sich mit den brutalen Anordnungen hasserfüllter anti-jüdischer Autoritäten auseinandersetzt und mit deren tragischem Einfluss auf unser Volk. Diese Dichtung wurde in einfachem Hebräisch verfasst, berichtet in einfachen Worten von historischen Ereignissen und erzählt in ungeschminkter Art und Weise von der Verfolgung und dem Abschlachten jüdischer Gemeinden in verschiedenen Epochen unserer Geschichte. Jüdisches Märtyrertum und Heldentum wird plastisch bis ins Kleinste vor Augen geführt. Gleichzeitig ist diese Dichtung geschichtsübergreifend. Sie zeigt gegen uns gerichtete  teuflische Akte zu unseren Lebzeiten genauso auf, wie sie die grausamen Verfolger Israels in den vergangenen Jahrhunderten darstellt. Schaudernd vor Ehrfurcht erkennen wir, dass die Generationen Israels durch ein identisches Märtyrertum miteinander verbunden sind.

Es ist beachtlich, wie schnell diese Dichtung zu ihrer Zeit als Teil des Gottesdienstes in der Synagoge aufgenommen wurde. Die Slicha, „Et ha-kol kol Yaakov nohem“, die die Selbstopferung der Juden in den rheinischen Städten während des ersten Kreuzzuges (1096) beschreibt, wurde von Kalonymus ben Jehudah aus Mainz verfasst, der selbst Augenzeuge der Massaker war. Er ist auch Autor der Kina „Mi yiten roshi mayim“, die uns die tatsächlichen Daten der Gemetzel in den jüdischen Zentren im Rheinland Mainz, Worms und Speyer gibt und die uns kein Detail erspart. Die Slichot „Elohim al dami le-dami“ von David ben Meshullam aus Mainz und „Adonai Elhohai rabbot zeraruni min’urai“ von David ben Samuel Ha-Levi basieren ebenfalls auf eigenen Erfahrungen. David konnte sein Leben nur retten, indem er von Mainz nach Speyer floh. Rabbi Meir in Rothenburg schrieb eine Kina über die Wagenladungen von jüdischen Büchern, besonders von Talmudausgaben, die in Paris auf Anweisung des Königs und der Regierung im Juni 1242 oder 1244 verbrannt worden waren – sie wurden umgehend den Klageliedern hinzugefügt, die an Tischa B’Av rezitiert werden.

Slichot als Mittel der jüdischen Erziehung: Dank der Offenheit der mittelalterlichen Gemeinden neuer liturgischer Poesie gegenüber verfügen wir über lebendige Geschichte: dies sind historische Dokumente, die immer noch Bestandteil unserer Gottesdienste sind. Sie können zu einem unglaublich wertvollen Teil unserer Erziehung werden, der unsere Kinder mit ihren weit entfernten Vorfahren verbindet, indem sie sich zum Beispiel in die Speyer Synagoge versetzt fühlen, in die Mitte der alten Gemeinde, die das Hallel an Schawuot rezitierte und es nicht unterbrach, während der Feind mit dem Schwert in der Hand in die Synagoge eindrang und einen nach dem anderen niedermetzelte. Wenn wir unseren Kindern historische Momente wir diesen richtig vermitteln, wird es für sie mehr sein als trockene Geschichte. Wir Heutigen können dann mitfühlen. Wir sind da, wie sie da waren. Während wir heute das Hallel beten, erscheint ihr Leben vor uns, und das Hallel bekommt eine neue Bedeutung als Bindeglied zwischen den Generationen.

Märtyrertum ist Thema des Minchagottesdienstes an Jom Kippur: Als ich durch die Seiten des Machsors meiner Jugend ging, durch den aschkenasischen Ritus, dem wir in Mainz folgten, wo ich geboren wurde und aufwuchs, sah ich, dass man alle Gezera-Slichot im Mincha an Jom Kippur findet. Diesem Ritus gemäß gibt es an Jom Kippur keine hazkarat neshamot. Nun weiß ich den Grund. Der gesamte Minchagottesdienst war eine Gedächtnisfeier. Er schloss die Slichot ein, die ich erwähnt habe, und führte zum Märtyrertum der Assara Harugei Malchut, der zehn Tannaim, der Weisen, die der Überlieferung zufolge hingemordet wurden, weil sie dem Hadrian’schen Edikt trotzten, das jedes Studieren und jede Praxis des Judentums verbot. Diese Männer symbolisieren das jüdische Opfer für Gott im Widerstand gegen Tyrannei.

Spätere Geschehnisse mit archetypischen Mustern zeigen unser Volk als einheitlichen Organismus. Wir sind alle eins, die Märtyrer des Holocaust einbezogen, man kann uns nicht trennen. Und so hat Mincha nun ein eindeutiges Thema. Es ist nicht länger in erster Linie eine Brücke zwischen den Awoda des Mussaf und der Bitte in N’ilah, die Tore zu öffnen. Mincha ist Martyrologium.

Gezera-Slichot als Theologie: Die Gezera-Slichot und die Kinot erwähnen beide nicht die Sündhaftigkeit als Grund für die Tragödie. Sie mögen als Gesamtheit zu den Gebeten in Gerichtshofmanier gehören. [1] In diesen Gebeten – darauf weist Hoffmann hin – bringt der Bittsteller die Verdienste, die er oder seine Vorfahren erworben haben, in das Bewusstsein des Allmächtigen, so dass sie diese als mildernde Umstände anbringen können, wenn die Büßer selbst einmal vor dem Gericht stehen und an seine Gnade appellieren.

In diesem Geist rezitieren wir Gottes dreizehn Attribute der Gnade nach jeder Slicha, um durch die Rezitationen sein Erbarmen zu erwecken. Doch jetzt, zu Mincha, eröffnen diese Attribute zugleich den Pizmon (gemäß des westlich-aschkenasischen Ritus) und werden zu seinem Thema. Wenn wir den Pizmon als Zusammenfassung des ganzen Abschnittes ansehen, wird der „Gerichtssaal-Appell“ deutlich. Der, wie das Akrostichon erkennen lässt, von Amitai (ben Shefatiah, 12. Jhrdt) verfasste Pizmon schließt mit den Worten:

Dein Wille sei es, der du erhörst die Stimme des Weinens, bewahre unsere Tränen in deinem Behälter auf und bewahre uns vor jedem grausamen Geschick, denn zu dir allein sind unsere Augen erhoben. So verzeihe unsere Schuld und unsere Sünde und laß uns dein Eigentum bleiben.

Schuld an der Verfolgung und dem Tod der Märtyrer war demnach nicht ihre Sündhaftigkeit. Sie starben in Reinheit und gaben sich und ihre Kinder willentlich hin, geleitet vom Vorbild der Akedah[2]. Sie starben, damit ihre Nachkommen leben konnten. Also wird es nicht erwähnt, dass die Juden aus Mainz in Wirklichkeit zu den Waffen griffen, um gegen die Feinde zu ziehen.[3] Die Märtyrer werden dargestellt, als hätten sie den Tod frei und widerstandslos hingenommen, wie einst Isaak.

Früher stützten wir uns auf die ewig bestehende Opferung auf dem Morija, die zum Heile jedem Geschlechte aufbewahrt bleibt, es sind hinzugekommen solcher Opferungen unzählige, Ewiglebender, das Verdienst jener Tugendhaften bewahre und ende unsere Leiden (Elohim al dami).

Einigen Märtyrern des Holocaust, die sich ihrem Schicksal kampflos ergaben, mögen sich von dieser Slicha  geleitet gefühlt haben.

Die Frage – warum verlangte Gott dieses Opfer? – wird ebenfalls gestellt, zumindest indirekt. Der Bericht über die zehn Märtyrer beginnt mit den Worten:

Rabbi Jismael vollzog an sich die Reinigung und sprach bebend den Namen Gottes aus, er erhob sich zum Himmel und fragte den wie in Linnen gekleideten Engel. Dieser sagte ihm: Nehmet es auf euch, Fromme und Geliebte, denn ich habe es hinter dem Vorhang vernommen, daß ihr von diesem Geschick nicht gerettet werden sollt. Er stieg hinab und berichtete den göttlichen Entschluß seinen Gefährten. Der Bösewicht befahl, sie mit grausamer Gewalt zu töten.

Wenn dies nun bedeutet, dass die Überlebenden sich verwehrten, über Gottes Handeln zu grübeln, dann bedeutet es ebenfalls, dass sie keine Schuld bei sich selbst oder den Opfern für die schrecklichen Ereignisse suchten. Dennoch gibt es – Gott gegenüber – einen Unterton der Anschuldigung. „Ist solches je gehört, je gesehen worden? […] Man führte Kinder zur Schlachtbank wie zum leiblichen Trauhimmel, hältst du bei solchem an dich, Mächtiger, Hocherhabener!“

Die göttliche Verordnung wird akzeptiert, doch gibt es auch die demütige und dennoch eindringliche Frage an Gott: „War es wirklich nötig, solch ein Opfer von Israel zu verlangen?“ Doch mehr denn je gibt es auch die Entschlossenheit, weiterhin treu im Glauben zu stehen, und damit den Willen zu überleben, weil das Beispiel dieser Helden eine Herausforderung ist und ihre Ethik uns Vorbild gibt. Wir, die wir Überlebende des Holocaust sind, haben bislang keine besseren Antworten oder Anleitungen gefunden.

Der Geist der Erinnerung und die Grenzen der öffentlichen Anteilnahme

Diese Slichot und Kinot offenbaren einen unterschwelligen Geist, der die Herausgeber unseres Gebetsbuches anregte: das jüdische Volk wird als ein trans-historisches corpus mysticum angesehen. Die Slichot schweißen die Akedah, das Märtyrertum der Zehn und die Hingabe der Männer, Frauen und Kinder während der Kreuzzüge zu etwas Einzigem zusammen. Die Kinot verknüpfen die Erinnerung an Zion mit der Erinnerung an die Märtyrer des Mittelalters und an das Verbrennen des Talmuds. Die Kina von Rabbi Meir ist für sich ein „Zionad“. Formal adressieren diese Kinot, die auf Jehudah Ha-Levis „Ode für Zion“ beruhen, Zion als eine Person. Rabbi Meir spricht von der Tora als Person. Die Form zeigt die Absicht: die persönliche Beziehung zwischen Israel, dem Land und der Tora, in jedem Zeitalter in jedem Winkel der Welt.

Für mich, der ich dem Märtyrertod meiner Mutter und vieler anderer Familienmitglieder mit allen der Opfer des Holocaust gedenke, hat dies bedeutet, dass die Tage des Tischa b’Av und Jom Kippur Tage des öffentlichen Gedenkens sind, das die Opfer der Gegenwart mit denen früherer Tage und denen, die bei der Verteidigung des Landes Israels fielen, verbindet. Ich kann nicht empfinden, dass man ihnen größere Ehre zuteil werden lässt, wenn man sie in der Erinnerung von den anderen absondert, anstatt ihrer als Teil des ganzen Gebildes Israel und Israels Heroen zu gedenken. In Mainz wuchs ich in einer Gemeinde auf, die noch an den Vorschriften ihres einstigen Rabbiners und Chasans Rabbi Jacob Möllin, Maharil (1427) gebunden war, der entschieden hatte, dass kein Minhag je geändert werden solle, besonders im Hinblick auf die Yamim Noraim, während derer sogar die liturgischen Töne geheiligter Tradition folgen müssen. Die Praktiken, die ich dort erlebte, haben also eine lange Geschichte.

Mainz hatte allen Grund, den Jom Haschoa zu befolgen und tat dies auch. Am Schabbat vor Schawuot, also der Zeit der mörderischen Metzeleien während der Kreuzzüge, und am Schabbat vor Tischa b’Av, gingen der Rabbiner und der Chasan leise die Seiten des Memorbuches durch. In symbolischer Trauer saßen sie dabei auf der Bank der zentralen Bima, dem „Almemor“. Die Gemeinde stand schweigend. Dann stimmte der Chasan, zum einzigen Mal im Jahr, sitzend das El Male Rachamim an. Zum Jom Kippur gab es keinen Hazkarat Neshamot; an den letzten Tagen der Schalosch Regalim bestand es wiederum nur aus dem Lesen der Seiten des Memorbuches, während die einzelnen Gemeindemitglieder ihrer Verstorbenen gedachten. Die Slichot des Mincha zu Jom Kippur und die Kinot von Tischa b’Av bekamen dadurch einen geballten und nachhaltigen Einfluss. Meiner Ansicht nach kann der Jom Haschoa bestenfalls ein Prolog und eine Referenz für Tischa b’Av und Jom Kippur sein. Als ein besonderes Gedenken ausschließlich für die Opfer des Holocaust und derjenigen, die im Krieg um Israel umkamen fehlt meines Erachtens ein grundlegendes Element: die Erklärung der Einheit des jüdischen Volkes über Zeit und Raum.

In diesem Sinne hoffe ich darauf, dass wir einen Dichter oder einen Gelehrten finden können, der über die poetische Inspiration verfügt, uns Slicha und Kina zu geben, die diese Einheit ausdrücken. Und ich hoffe, dass diese Werke dann schließlich durchweg von allen Juden übernommen werden, damit sie auf Hebräisch oder in der Landessprache – je nach Tradition der einzelnen Gemeinden – rezitiert werden. Auf meiner Suche stieß ich auf Passagen unter den vorhandenen Pijjutim, die sich auf unsere heutige Zeit und ihre Märtyrer sowie auf die der Vergangenheit beziehen. Sie könnten in eine solche neue Liturgie mit einfließen. Dann würde der Text selbst Gegenwart und Vergangenheit verbinden. Die Vordenker des Mittelalters schafften neue Dichtung, und doch war es nicht völlig neu. Durch die Anlehnung an den Midrasch knüpfte sie eine Verbindung zur Vergangenheit. Auch finden wir beispielsweise in Rabbi Meirs Kina eine bewusste, stilistische Verbindung zu Jehuda Halevis „Ode für Zion“. Altes verschmilzt mit Neuem.

Ich möchte versuchen zu zeigen, was ich damit meine, und habe – im Bewusstsein meiner Unzulänglichkeit – einige Zeilen aus Kinot und Slichot frei übersetzt. Die Auszüge sind so arrangiert, dass sie der Abfolge der Ereignisse folgen, angefangen mit anti-jüdischer Propaganda, über den Boykott bis hin zu dem Verbrennen der Bücher und dann der Synagogen und schließlich zur ultimativen Tragödie.


Ewiger, mein Gott,
viel hat man mich bedrängt seit meiner Jugend,
ich suchte dich auf, du stärktest mein Herz,
indem du mir halfst.
Nun sind stark und mächtig meine Dränger geworden,
sprechen gegen mich, daß alle meine Glieder erbeben.
Ich bin zur Schmach unter ihnen geworden,
zur Spott- und Gleichnisrede,
einen Stein warfen sie auf mich und zogen lang auf mir die Furche.
Bösewichter kränkten mich mit ihrem Mund,
machten ihre Zunge gleich einem scharfen Schwerte,
sannen Böses gegen mich erbarmungslos [...]
Deine Güte und dein Erbarmen zeige mächtig über der Herde deiner Weide [...]
Deine Lehre und deine Zeugnisse sind unsere Wonne,
durch sie lebt unsere Seele (Rabbot Zeraruni).

 

Oh Du, die das Feuer vernichtete,
suche das Wohl derer, die um dich trauern,
die wohnen wollen
am Hof deines Palastes;
die weinen in den Staub der Erde,
voll tiefsten Schmerzes
wegen des Brandes deiner Rollen […]
Ach, dass die Tora
hervorgegangen aus dem verzehrenden Feuer Gottes
in Flammen aufgehen konnte, von Sterblichen entzündet.
Und die grausamen Fremden
waren nicht einmal gesengt durch deine Kohle […]
Ich stehe in tiefer Bestürzung,
ich kann nicht verstehen,
dass das Licht des Tages sich in Helligkeit auf alle erhebt,
doch die Dunkelheit bringt zu mir und zu dir (Scha’alis serufa)

 

Oh, wäre mein Kopf doch ein Brunnen voll Wasser,
meine Augen eine Quelle für meine Tränen
sodass ich weinen möge
alle meine Tage und Nächte
über die Erschlagenen […]
meiner Gemeinde;
und du, schließe dich meinem Aufschrei an,
oh, und dem Leid, dem bitteren Leid,
und weine mit mir Tränen über Tränen über Tränen
für das Haus Israel
und das Volk Gottes,
erschlagen mit dem Schwert […]
die wunderschönen Jungfrauen,
die zarten Jungen,
die von ihren Schulbüchern gezerrt,
zur Schlachtbank geschleift
mit Füßen getreten wie der Dreck der Straße,
und weggeworfen […] (Mi Yiten roshi mayim).


Gott,
ruhe nicht bei meinem Blute […]
Sie berieten sich insgesamt,
den Taumelbecher zu mischen,
das Angesicht der ganzen Erde zu verhüllen zu versuchen,
auf daß der heilige, erhabene Name nicht mehr genannt werde
und man dem verworfenen, greuelhaften Tand nachgehe [....}
Er schaue,
es werde geschaut die Tat frommer Töchter,
am hellen Tage wurden sie entblößt dahingestreckt,
edle Frauen durchbohrt und ihre zarte Leibesfrucht getötet.
Ist solches je gehört
je gesehen worden [....]!
Ewiglebender, das Verdienst jener Tugendhaften bewahre
und ende unsere Leiden (Elohim al dami l’dami).

Für diejenigen von uns, die, wie ich selbst, in Konzentrationslagern gewesen sind und ihre Lieben verloren haben, schwindet die Erinnerung nie. Je mehr die Jahre verstreichen, umso lebendiger wird das Erlebte. Ich erinnere mich noch gut an eine der frühen Morgenstunden, noch vor Sonnenaufgang, wie wir aufgereiht standen, in beißender Kälte, einer hetzerischen Wut Rede ausgesetzt, und den Tod erwarteten – und ich, wie niemals zuvor oder danach, die Gegenwart der Schechina unter uns allen in unserem Schweigen fühlte.

Da mein eigener Tod nun nicht mehr fern sein kann, ist es umso dringender, einen Beitrag zu leisten – so gering und unvollständig er auch sein mag – zu einer sinnstiftenden Form der Erinnerung für diejenigen, die nach uns kommen.

[1] Siehe Heinemann, Prayer in the Talmud, 193 ff.; auf Seite 214 wird “El Melech Yoshev”, das nach

jeder Slicha rezitiert wird, als typisches Gebet in Gerichtshofmanier genannt

[2] Siehe Shalom Spiegel, The Last Trial.

[3] Siehe Jacob R. Marcus, The Jews in the Medieval World, pp. 115 ff.

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