Parabel von den drei Ringen
Um gleich am Anfang einem Missverständnis vorzubeugen: Leo Trepp hat Lessing und Mendelssohn verehrt und Nathan den Weisen als ein großes und wichtiges Drama der Nächstenliebe und Toleranz angesehen, obgleich Trepp mit dem Begriff der Toleranz ohnehin seine Schwierigkeiten hatte, wie wir im nächsten Stück sehen werden. Das Interessante ist, dass er trotz seiner Anerkennung für die Aufklärung (er wählte das berühmte Bild der drei Denker Lessing, Mendelssohn und Lavater als Titel für sein Buch ‚Geschichte der deutschen Juden’) deren Risiken für die Juden sieht, die ihr ohne gleichzeitige spirituell-jüdische Aufklärung ausgesetzt sind. Damit setzt sich der folgende Essay auseinander, in dem Trepp die Linie verfolgt, die durch die noachidischen Gebote vorgegeben ist. Und zu dem Ergebnis kommt, an dessen Prinzipien er stets geglaubt hat: Jeder Gläubige sollte seine Werte, seinen Schutz und seine Zuversicht aus seiner Religion schöpfen. Er soll um diese Religion ringen und mit ihr ringen, doch wenn er beginnt, sie für austauschbar zu halten, fehlt ihm die spirituelle Basis für die offene und liebende Auseinandersetzung mit anderen Religionen und Kulturen, für die er vielleicht dachte, durch Relativierung seiner eigenen Religion offener zu werden. In diesem Denken Trepps kann, worauf mich ein Freund aufmerksam gemacht hat, eine Quelle für Chauvinismus liegen, doch wenn aus der Sicherheit des eigenen Glaubens heraus die Gläubigen anderer Religionen respektiert und als gleichwertig angesehen werden, ist es das Fundament für ein echtes Miteinander und ehrliche Dialoge. So hat Trepp es selbst stets gehalten, und so muss man auch seine Interpretation des Lot-Komplexes verstehen (ein Buch mit dem gleichnamigen Titel beschäftigt sich mit einer anderen Problematik und hat mit dem hier behandelten Thema nichts zu tun). Das Erbe, das Trepp im Zusammenhang mit Lot erwähnt, meint das spirituelle Erbe Lots, das dieser bereit ist aufzugeben. Mein Mann hat diesen Beitrag 1944 anlässlich des 215. Geburtstages von Lessing und Mendelssohn für den Reconstructionist geschrieben, in einer Zeit, in der es den Staat Israel noch nicht gab. Das Stück hat seine Aktualität behalten, nicht nur für die Juden, sondern auch, wenn man zum Beispiel an die Möglichkeit erfolgreicher Gespräche mit Vertretern des Islam denkt.
Im Jahre 1729 wurden zwei Männer geboren, die großen Einfluss auf das Judentum gehabt haben – Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn. Lessing schrieb „Nathan der Weise“ mit seinem großartigen Appell an gegenseitiges Verständnis, und Mendelssohn war die Vorlage, nach der Nathan geschaffen worden war. Heute begeben wir uns auf die Suche nach den Auswirkungen ihrer Ideen auf das jüdische Gedankengut. Diese waren tiefgründig, das wissen wir – aber waren sie auch gesund? Es ist einfach zu verstehen, warum Lessing und Mendelssohn einen so großen Einfluss auf das Judentum ausgeübt haben. Sie waren die ersten großen Persönlichkeiten, auf die die Juden trafen, als sie aus dem intellektuellen und kulturellen Getto herauskamen, in dem sie gelebt hatten. Tatsächlich war Mendelssohn der Moses seiner Zeit, er führte das Judentum aus Beschränkung und Gefangenschaft in den weitläufigen Bereich der zeitgenössischen Zivilisation, direkt hinein in die Aufklärungsperiode. Es war die Aufklärung mit ihrer Neigung zum Humanismus, die die Emanzipation möglich gemacht hatte, und da es die erste Philosophie war, mit der die deutschen Juden in Kontakt kamen, waren sie besonders den Philosophen dieser Schule verschrieben, und wurden stark von ihnen beeinflusst. Die Philosophie der Aufklärung formte das jüdische Denken auch noch lange, nachdem nichtjüdische Denker es bereits verworfen hatten.
Der Geist dieser Zeit wird treffend durch die bekannte Geschichte von den drei Ringen in Lessings „Nathan der Weise“ wiedergegeben. Aber nur wenige Denker, selbst zu jener Zeit, waren aufgeschlossen genug, sich die zugrundeliegende Idee zu Eigen zu machen, wie Lessing es getan hatte. In dem Stück erzählt Nathan die Geschichte als Antwort auf die Frage des Sultans, welche der drei großen Religionen – Christentum, Islam oder Judentum – er für die größte hielt… Sie geht wie folgt:
Ein Vater hatte einmal ein kostbares Erbstück, einen Ring mit magischen Kräften. Der Ring wurde immer an den Lieblingssohn weitergereicht. Dieser Vater aber hatte drei Söhne, die er mit gleicher Hingabe liebte. So ließ er zwei andere Ringe machen, die genauso aussahen wie der echte, und gab jedem Sohn einen Ring. Von dieser Zeit an wusste niemand mehr, welches der echte Ring war. Nur die Zeit konnte das zeigen. Der, der der Größte im Geiste und in der Liebe war, durfte sich der Besitzer des wahren Ringes nennen. Und das ist auch die Geschichte der drei Religionen. Sie sollten nach ihren Werken beurteilt werden. Keine ist scheinbar den anderen überlegen; ihre Gläubigen halten daran fest, weil sie sie geerbt haben; obwohl sie wissen, dass ihr Ring der falsche sein könnte. Es ist der Humanismus, der zuerst und zuletzt zählt.
Es ist eine der schönsten Parabel der Literatur. Sie predigt Toleranz, Gleichheit und gegenseitiges Verständnis. Sie lädt die Gläubigen aller Religionen ein, in Liebe und guten Taten miteinander zu wetteifern. Keine Religion soll das Recht haben, einer Gruppe ihre eigene Brandmarke aufzuzwingen oder die zu verachten, die Gott auf andere Weise ehren. Daher trägt die Geschichte, die wir schon in der mittelalterlichen jüdischen Literatur finden, eine wichtige und nachhaltige Botschaft in sich. Aber in Lessings Szenario, als zentrales Thema des Stückes und als Lösung für das Problem der Religionen, erhält sie eine weitere Bedeutung. Die Geschichte plädiert an die Gläubigen selbst, in ihren Köpfen zu behalten, dass ihre Religion nicht notwendigerweise die richtige ist. So haben viele Juden die Parabel verstanden, besonders im 19. Jahrhundert. So verstanden kann die Parabel jedoch auch viel Schaden verursachen.
Lessings eigene Philosophie führt die Idee nicht zu Ende, die in der jüdischen Interpretation dieser Geschichte liebt. Einst schrieb er ein Pamphlet namens: „Die Erziehung des Menschengeschlechts“. Darin erklärt er, dass menschliche Vernunft und Intelligenz die Menschheit zu Gott bringen werden. Es gibt also keinen Grund für irgendeine Offenbarung. Dennoch hat die Offenbarung einen großen Vorteil: Sie sagt das Ende voraus. Genau wie der Lehrer dem Schüler die Lösung eines mathematischen Problems gibt und ihm dann die Aufgabe stellt, herauszufinden, wie man zu dieser Lösung kommt, so hat Gott der Menschheit die Lösungen gegeben, zu denen die Vernunft nur nach langem Kampf kommen wird. Und die Menschheit mag – im Zuge ihrer Entwicklung – dennoch Gebrauch von ihrem Wissen über das Ende machen und davon profitieren. Dies impliziert, dass bestimmte (offenbarte) Prinzipien ohne Widerrede akzeptiert werden müssen – jedoch mit dem Wissen, das unser eigener Verstand uns am Ende den zugrundeliegenden Sinn aufzeigen kann. In Verbindung hiermit erklärt Lessing, dass das Alte Testament einige Wahrheiten lehrte, die über alles hinausführten, was die Vernunft jemals erreicht hatte, und dass das Neue Testament einige offenbarte Wahrheiten enthält, die über alles hinausführen, was je im Alten Testament gelehrt worden war oder die Vernunft hätte erreichen können.
So wird deutlich, dass aus Lessings Sicht diejenigen, die nicht an das Neue Testament glauben, im Nachteil sind. Deren Denken wird sie nur nach einem langen Kampf zu den offenbarten Wahrheiten des Neuen Testaments führen. Dies mag das Christentum zwar nicht von einem ethischen Standpunkt aus den Vorrang geben, aber es zeigt den Vorrang zumindest vom utilitaristischen Standpunkt aus, denn es zeigt, dass die Lehren des Neuen Testaments von Christen unmittelbar praktisch umgesetzt werden können. In diesem Sinn steht die Doktrin also in Widerspruch zur Gesinnung der Parabel.
Lessings Theorien, selbst die, die in der „Erziehung“ angesprochen wurden, wurden vom deutschen Protestantismus jedoch nicht anerkannt. Das deutsche Judentum scheint die christlichen Aspekte dieser Theorien übersehen zu haben, die in anderer Hinsicht den Ansichten Maimonides sehr ähnlich waren – lange vor Lessing. Folglich bereitete sich das deutsche Judentum auf seine Rolle als Partner für die Welt-Bildung vor, machte sich bereit, der Menschheit seinen Anteil im Sinne der prophetischen Lehren beizusteuern, die in den Tagen der Emanzipation generell wieder aufgelebt zu sein scheinen. Der Protestantismus zog sich jedoch in seine Schale zurück. Die Juden vernachlässigten ihre eigene jüdische Entwicklung, wurden spirituell geschwächt, aber auch von anderer Seite gab es wenig Reaktion. Also hing die jüdische Philosophie, die auf dem Grundsatz der Kooperation verschiedener Gruppen aufbaute, in der Luft. Dies hatte einen enormen Einfluss auf das jüdische Leben.
Der Trugschluss in Lessings Parabel wird deutlich, wenn wir sie mit dem jüdischen Grundsatz vergleichen, den die Rabbiner einst formulierten. Die Rabbiner sagen: "Tzadike ummot haolam yesh lahem helek leolam haba” (Die Gerechten aller (Nationen und Religionen) werden Erlösung finden).
Somit ist unmissverständlich klar, dass die Erlösung nicht von der Validität einer spezifischen Religion abhängt, sondern vom impliziten Glauben des Gläubigen, welche Religion auch immer die seine ist. Theoretisch mögen alle Religionen gleich wertvoll oder unnütz sein, tatsächlich ist es die psychologische Reaktion der Gläubigen auf ihre Religion, die zählt. Psychologisch gesehen kann und muss es nur eine wahre Religion für den Gläubigen geben, nämlich seine Religion. Lessings Ring-Parabel wird zum religiösen Selbstmord. Denn wenn selbst die Gläubigen zweifeln, ob ihre Religion die richtige ist, dann wird Religion selbst irrelevant und nutzlos. Es ist bedauerlich, dass eine Menge Juden Opfer dieses Trugschlusses der Lessingschen Ring-Idee geworden sind, und vergessen haben, dass das Judentum für uns die einzige Religion ist und unsere Aufmerksamkeit zuerst verdient. Denn nur so können wir unseren jüdischen Beitrag zur Verbesserung der Welt leisten.
Der erste Jude, der in Berührung mit Lessings Idee kam, war der Erste, der die Schwierigkeit dieser Situation durchleben musste. Es war Mendelssohn selbst. Er glaubte an Lessings Prinzip von „Bildung durch Vernunft“: er glaubte an die Aufklärung, doch das Judentum war für ihn unverzichtbar. Er versuchte, der Schwierigkeit aus dem Weg zu gehen, indem er behauptete, das Judentum sei lediglich offenbartes Gesetz, und nicht offenbarte Doktrin, so dass es weder unser Gedankengut noch den Verstand tangierte, sondern den Intellekt vollkommen frei lasse. Indem er dies tat, beraubte Mendelssohn das Judentum seiner Eigenschaft als „Religion“. Aber später wurde er einer Prüfung unterzogen. Johann Caspar Lavater, ein Schweizer Kleriker, forderte ihn heraus, entweder die Überlegenheit des Judentums zu beweisen oder es aufzugeben und zum Christentum zu konvertieren. Und dann kehrte Mendelssohn (unbewusst) zur Position der Rabbiner zurück. Das Judentum, erklärte er, sei die einzig wahre Religion für ihn, aber mit dieser Aussage rückte er vollkommen ab von der Schlussfolgerungen der Ring-Parabel.
Unter Mendelssohns Nachfolgern wurde Lessings Parabel kritiklos hingenommen. Sie hat zweifellos zu der Welle von Übertritten zum Christentum beigetragen, welche die jüdische Oberschicht kurz nach der Emanzipation erfasste. Diese Juden sahen, dass sich die Gesellschaft für sie öffnen würde nach dem Übertritt, und sie gesellschaftlich ihren Weg machen könnten. Des Weiteren interpretierten sie das Judentum im Lichte von Lessings Parabel so, dass es nicht notwendigerweise besser als jede andere Religion sei, nicht einmal für sie. Also schlussfolgerten sie, dass man das Judentum genauso gut aufgeben könne. Lessing zufolge würden die Richtlinien des Judentums ohnehin in jedem Falle bewahrt werden, weil sie gleichzeitig Schritte auf dem Weg der Vernunft waren. Diese Juden dachten, sie gäben lediglich die Gesetze auf, die, Mendelssohn zufolge, die einzigen charakteristischen Merkmale des Judentums waren. Da sie manche der Gesetze bereits ohnehin aufgegeben hatten, gab es für sie keinen Grund mehr, sich selbst Juden zu nennen. Das zumindest glaubten sie. Und sie waren überzeugt, dass sie spirituell nichts aufgaben, materiell jedoch viel dazugewannen.
Ein realer Vorfall demonstriert diese gedankliche Tendenz sehr deutlich. Im Jahr 1799 schrieb David Friedlander, ein führender Jude in Berlin, einem bekannten und einflussreichen Kleriker in Berlin, der berühmt dafür war, ein liberaler Protestant zu sein: Pastor Wilhelm Teller. In seinem Brief schrieb Friedlander, dass einige Männer wie er selbst, gemeinsam mit ihren Familien, willens seien, „die Religion der Väter und der zeremoniellen Gesetze aufzugeben, und die große protestantische Gesellschaft als Zufluchtsort zu wählen… falls dieses ohne Aufgabe ihrer Ansichten und ohne Verletzung ihrer moralischen Gefühle von statten gehen könne.“ Dies bedeutete einfach, dass diese Männer sich einer Religion der Vernunft anboten und gewillt waren, dafür alles zu opfern. Im Gegenzug dafür verlangten sie lediglich, nicht verpflichtet zu werden, Dogmen akzeptieren zu müssen, die mit der Vernunft nicht vereinbar waren, die Überzeugung eingeschlossen, dass die Taufe zur Erlösung unerlässlich sei. Der Brief zeigt letztendlich, wie durchdringend Lessings und Mendelssohns Theorien diese Juden beeinflusst hatten. Und die Antwort zeigte deutlich, welche Position selbst von der liberalen protestantischen Kirche eingenommen wurde: die Antwort lautete Nein.
Nichtsdestotrotz gaben die jüdischen Philosophen des 19. Jahrhunderts ihren Optimismus nie auf, obwohl ihre Position sie wieder und wieder zwang, zu erklären, warum sie am Judentum festhielten und warum sie glaubten, dass das Judentum für die Juden richtig und gültig sei. Diese optimistische Philosophie schwächte die jüdischen Menschen stark, und zwar zu einer Zeit, als das Judentum Führung gebraucht hätte. Denn nach der Emanzipation betraten die Juden eine neue Welt – spirituell, intellektuell und physisch. Sie mussten sich auf ein neues Leben einstellen. Im Getto waren sie von der Gruppe beschützt worden; nun standen sie allein (da). Sie mussten mit neuen Formen von sozialem, ökonomischem und ideologischem Antisemitismus zurechtkommen. Ihre Denker jedoch taten nichts, um sie zusammen zu halten. Im Gegenteil, sie drängten das Individuum in eine neue und oft feindliche Welt und überließen es sich selbst. Das war in der Tat die tragischste Konsequenz von Lessings Ring-Parabel und Mendelssohns Interpretation des Judentums. Wir haben uns noch nicht davon erholt. Denn die Renaissance des Judentums ist durch den Zionismus, eine politische nationale Bewegung, gekommen und nicht durch spirituelle Erneuerung. Solange die spirituelle Umorientierung nicht erreicht ist, wird die jüdische Renaissance unvollständig bleiben.
Der jüdische Optimismus war nicht gerechtfertigt, wie die Ereignisse gezeigt haben. Die deutsche Romantik bewirkte eine vollkommene Umkehr der Gedanken. Eine Reaktion gegen die Befreiung setzte ein. Aber selbst die liberale Kirche hat einen Standpunkt, der anders ist als der der Juden. Der „Optimismus“ der liberalen Kirche basiert auf dem Prinzip, dass die Welt automatisch auf ihr finales Ziel hinsteuert. Diese These fußt auf Ideen, die denen von Lessing ähnlich sind, jedoch hauptsächlich von Leibnitz und Hegel abstammen. Leibnitz repräsentiert die Idee, dass eine vorgefertigte Harmonie in der Welt besteht, die sich aufwärts bewegt; dass das Böse nur die Kulisse darstellt, vor der das Gute noch heller erscheint, und dass das Böse somit ein Teil der großen Harmonie ist. Doch Leibnitz spricht auch vom Christentum als höchste Form der Religion. Für ihn ist das Judentum Monotheismus ohne das Gesetz der Unsterblichkeit. Wie auch immer transformierte das Christentum die Religion des Philosophen in eine für das Volk. Für Hegel stellt das Christentum die große Synthese des Geistes dar. Wenn also das Christentum auch ausschließlich philosophisch würde, bleibt es immer noch das Christentum, weil die christliche Idee Teil des Systems dieser liberalen Denker ist, auf dem die liberale christliche Philosophie basiert. Das Judentum würde seine eigene Unterlegenheit im Vergleich zum Christentum anerkennen, wenn es diese Philosophien unkritisch annimmt, und so tatsächlich eine bloße Behelfsreligion werden. Es könnte sich nicht aus sich selbst erhalten und lebendig bleiben.
Dieses Prinzip berührt nicht nur die Philosophie des Judentums, sondern es beeinflusst unser Leben in ungeahnter Tiefe. Wir sind an die christliche Kultur gebunden und können ihr nicht entkommen. Wir haben auch nicht den Wunsch, ihr zu entkommen, denn sie ist gut zu uns. Doch man muss sehen, dass christliche Kultur und Zivilisation unser Leben durchdringen. So wird selbst der Agnostiker und Atheist, der die christliche Kirche verlassen hat, niemals in der Lage sein, dem Christentum zu entrinnen – denn dessen Kultur durchzieht sein Leben. Der jüdische Agnostiker, Atheist und Liberale jedoch distanziert sich nicht nur vom historischen Judentum, sondern geht in Wirklichkeit einen Schritt in Richtung Christentum – denn auch seine Kultur ist durchzogen davon.
Darum sieht sich das liberale Judentum einer Gefahr gegenüber, der es nur entkommen kann, wenn seine liberale Philosophie nicht lediglich eine „Befreiung“ vom jüdischen Gesetz und Dogma ist, sondern ein positives Denkgebäude, gefüllt mit liberalen jüdischen Gedanken. Und gegen die Auswirkungen der christlichen Kultur auf unser Leben müssen wir unsere jüdische Identität bewahren, indem wir den Charakter des Judentums als eigenständige Kultur und Zivilisation betonen.
Dies soll keine Widerlegung der Geschichte der drei Ringe sein und ihrer Lehre über die Liebe, Toleranz, das Verstehen und Zusammenwirken. Es ist lediglich die Interpretation dieser Idee im Geiste der Rabbinen. Dieser Beitrag propagiert nicht die Selbstisolation, sondern alltägliche Zusammenarbeit und ein Geben und Nehmen.
Die jüdische Tendenz zur Selbstverneinung ist augenscheinlich ziemlich alt, denn er scheint zur Aufnahme der Lot-Geschichte in die Bibel geführt zu haben. Lot und David Friedlander sind identische Charaktere. Der biblische Abraham ist bereit zu kooperieren und schließt einen Bund mit dem Herrscher des Landes, in dem er lebt. Erst jedoch errichtet er einen Altar. Lot aber ist bereit, sein Erbe für seine missverstandene Mission zu opfern. Doch sein missionarischer Eifer führt zu nichts anderem als zu seiner eigenen Zerstörung, während Abraham die Freundschaft und den Respekt der Menschen behält, unter denen er lebt, und sogar Einfluss auf sie gewinnen kann.
Der Lot-Komplex – vielleicht ein missverstandener prophetischer Gedanke – scheint typisch jüdisch zu sein. Es wäre unfair, nicht anzuerkennen, dass sich seine Wurzeln manchmal in noblen und aufrichtigen Überlegungen finden. Doch er wird immer ein Zeichen spiritueller Schwäche sein.
Beim Nachlesen von Predigten, die in New York gehalten und auszugsweise in der New York Times veröffentlicht wurden, kommt man nicht drum herum, neue Nachweise für diesen Komplex zu finden. Die christlichen Pfarrer sprechen mehrheitlich über Jesus Christus und predigen seine Lehren. Die Rabbiner dagegen analysieren politische Ereignisse aus allgemein humanistischer Sicht, nur selten finden wir hier eine Predigt, die Judentum predigt. Zugegeben – dies ist ein Eindruck, der von außen gewonnen ist. Und wahrscheinlich kann eine Predigt nur schwer anhand eines Auszuges in einer Zeitung beurteilt werden. Aber es ist offensichtlich, dass es irgendwo in der Reihe vom Prediger über die Gemeinde und die Zeitung hin zur (jüdischen) Öffentlichkeit jemanden gibt, der diese Art von Ansprache möchte oder an ihre Effektivität glaubt. Diese Tatsache mag also als eines von vielen Beispielen des Lot-Komplexes dienen, wie er heutzutage immer noch offenkundig ist.
Der Zionismus hat in den vergangenen Jahrzehnten eine Wiederbelebung des Judentums mit sich gebracht. Er hat es möglich gemacht, die jüdische Kultur wieder auf jüdischem Boden zu etablieren. Er wird eine regenerative Wirkung auf Israel als Ganzes haben. Aber, wie Mordecai Kaplan in The Reconstructionist (“Palestinian Educators in Search of Religion”, Vol. IX, No. 11) dargestellt hat, sind die Chancen gering, dass Palästina eine religiöse Führungsschicht herausbilden wird. Doch ohne Religion kann der Lot-Komplex nicht überwunden werden. Ein zionistisches Palästina, das nicht vollkommen ein jüdisches Palästina ist (und das schließt die Religion mit ein), wäre lediglich eine Projektion des Lot-Prinzips auf das Gruppenleben – „Lasst uns wie andere Nationen sein.“ Das soll nicht die großartigen und heroischen Leistungen des Zionismus und des Jischuws schmälern. Es bedeutet jedoch, dass, während wir – die Juden in der Diaspora – ein Prinzip nationaler Zivilisation neben der Religion brauchen, der Jischuw die religiösen Grundsätze neben dem Nationalismus brauchen wird, um das jüdische Leben zu vervollkommnen. Wenn das erreicht werden kann, werden sowohl die Diaspora-Juden als auch die Juden in Palästina einen wertvollen Beitrag zur Weltzivilisation leisten können. Nur wenn wir die Begrenzungen der Ring-Parabel wahrnehmen, werden wir in der Lage sein, unseren umfassendsten Beitrag zum Geist der universalen Brüderschaft zu leisten, den sie verkündet.