Was sollen wir mit Deutschland machen?

Leo Trepp hat diesen Beitrag 1973 für Sh’ma geschrieben, ein „Journal für jüdische Verantwortung“, über das Trepp einmal sagte: „Jüdische Verantwortung’ bedeutet, dass wir jeder Meinung Gehör verschaffen, und zwar als ‚Worte des lebendigen Gottes“. Es ist bemerkenswert, wie stark die Selbstkritik und die Aufforderung zur Selbstdisziplin – beides auf jüdischer Ethik basierend – zum Ausdruck kommt. Zum besseren Verständnis einiger Passagen: die Anmerkungen, die Trepp über Cynthia Ozick macht, beziehen sich darauf, dass der Verlag, der Dieter Wellershoffs Buch „A Beautiful Day“ in den Staaten verlegte, die jüdische Autorin darum bat, ein paar wohlwollende Worte für die Umschlagsseite zu schreiben. Sie lehnte ab und begründete die Entscheidung mit der Ermordung der europäischen Juden. „[...] Es gibt keinen jüdischen Schreiber hier, der auf seinem Rücken nicht einen Doppelgänger trägt – sein Gegenüber in den Grabstätten Europas. [..] ich schreibe mit zwei Mündern, einer gehört dem Toten, [...] und keiner der Münder ist bereit, etwas über Dieter Wellershoff zu sagen, der die Ostfront überlebte [...] um einer Jüdin in New York seine Arbeit zu schicken.“ Ozick zitiert den Brief in einer früheren Sh’ma-Ausgabe und erklärt ihre Reaktion. Der erwähnte Einfluss Nietzsches auf Theodor Herzl ist unter Autoren umstritten, viele gehen allerdings davon aus. Trepp vergleicht Deutschland mit Ninive, der antiken Stadt der Sünde in der Jona-Geschichte. Trepp geht kurz auf die Behandlung der deutschen Juden durch andere Juden in den Staaten und in Israel während und unmittelbar nach der Shoa ein. Aus Sicht vieler anderer Juden hatten sich die deutschen Juden zu stark assimiliert und waren zum Teil völlig vom Judentum abgefallen. Das war eine Sicht, die mein Mann durch sein eigenes Leben und Wirken konterkarierte. Die von ihm zitierte Ansicht der Propheten, dass die Kinder nicht für die Sünden ihrer Väter hafteten, hat er sich völlig zu eigen gemacht, und seine Annäherung an Deutschland und sein Wirken in Deutschland darauf gegründet.

Was für eine Beziehung sollen die Juden zu Deutschland haben? Ich kann über diese Frage nur grübeln. Ich habe meine Mutter und den Großteil meiner geliebten Familie im Holocaust verloren. Das hat mich für immer verändert, ich bin oft aufs Neue fassungslos und werde für immer zweifelnd und zerrissen bleiben. Kann jemand einen Leitfaden für persönliche Entscheidungen anbieten? Cynthia Ozick hat diese Debatte in einem der letzten Sh’ma-Hefte angefangen; möge sie sich zu einem Dialog entwickeln.

Hinter den selbstgefälligen Fassaden der kleinen, gemütlichen Häuser am Rhein entlang und sonst irgendwo in Deutschland bildet sich soziales Ferment – und Kommunisten und Linksradikale machen sich die Unruhe und Unzufriedenheit zunutze. Die neue Universität Bremens soll einen marxistischen Charakter bekommen, weil die neutrale Universität laut eines deutschen Parlamentariers, mit dem ich gesprochen habe, nur ein Traum Max Webers war, von der Realität widerlegt und von Hitler vernichtet. Der deutsche „Idealismus“, der ständig schwankt von einem Extrem ins andere, ist – wieder einmal – zum Vorschein gekommen. Bald werden diese und andere Universitäten neue Lehrkräfte losschicken, deutsche Kinder zu unterrichten. Damit wird eine neue Generation indoktriniert. Die Linken sind marxistisch, und das bedeutet, dass sie gegen Israel sind. Es gibt mehr arabische Studenten an deutschen Universitäten als Juden in Deutschland. Früher wirkte die jüdische Gemeinschaft in Deutschland als Kraft für einen ausgeglichenen Liberalismus, heutzutage können die paar Juden in den einzelnen Gemeinden diese Rolle nicht mehr ausüben. Wer kann dann das Judentum und das jüdische Volk vertreten? Wer wird Israel verteidigen? Wer wird die Stimme der Vernunft gegen die deutsche Romantik erheben? Haben wir eine Verpflichtung zu mahnen und ermahnen, so wie diese Aufgabe damals auf den Propheten Jona fiel?

Die Schwäche der starken Emotionen

Es gibt verschiedene Gruppen von Deutschen. Manche haben vergessen und leben glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende. Andere haben niemals Schuldgefühle gehabt; viele andere junge Deutsche lehnen jegliche Verantwortung für die Taten ihres Vorfahren ab. Aber es gibt diejenigen, die die Last der Vergangenheit tragen – Junge und Alte. Sie erkennen an, dass es niemals eine Wiedergutmachung geben kann, aber dass es Reue gibt, Umkehr und die Wiederherstellung des Gewissens. Diese Menschen kommen zu uns, und bitten um Mitgefühl und Vergeben. Ich weiß nicht, ob Dieter Wellershoff (siehe Cynthia Ozicks Beitrag), der darum gebeten hat, dass sein Buch von einem jüdischen Autor besprochen werde, zu dieser Gruppe gehört. Sollen wir ihm unseren Vertrauensvorschuss und unser Mitgefühl geben?

Wir tragen Hass in uns von Generation zu Generation – was wird das mit uns machen, wie wird es uns formen und beeinflussen? Ezekiel sagte einst zu seinem Volk, dass die Kinder nicht sterben sollen für die Sünden ihrer Väter. Seine Gemeinschaft in Babylon jedoch beklagte ihr schweres Schicksal unter anderem mit den Worten: “Tochter Babel, Vergewaltigerin! Glückauf ihm, der dir zahlt dein Gefertigtes, das du fertigtest uns: Glückauf ihm, der packt und schmeißt deine Kinder an dem Gestein (Ps. 137:9).“ Welche Schuld lag auf den Kleinen? Sind wir romantisch emotional, hat Gefühl das letzte Wort, wenn wir unsere Meinungen abwägen und unsere Handlungen dirigieren? Wie unterscheiden wir uns dann von den Deutschen? Wenn Leo Baeck Recht hat, und das Judentum anti-romantisch ist, dann widerspricht ein romantischer Emotionalismus unserer Pflicht als Juden. Und trotzdem scheint er zu existieren.

Ich habe mich oft über den unerbittlichen Hass gewundert, die die Juden Nietzsche gegenüber gezeigt haben. Es sind über zwanzig Jahre her, dass Walter Kaufmann – Kapitel für Kapitel und Strophe für Strophe zitierend – bewiesen hat, dass Nietzsche den Antisemitismus verabscheute und Vieles im Judentum respektierte. Und doch haben wir die Verzerrungen seiner Ideen durch seine antisemitische Schwester akzeptiert, die Schwester, die er selbst hasste, und später die von Nazi Kommentatoren, die ihn als Schutzpatron für sich in Anspruch nahmen. Warum haben wir das getan? Kann es sein, dass wir unsere einmal erlangten Vorurteile nicht mehr loswerden können, genauso wie sich so mancher Nichtjude nicht von seinem Vorurteil gegen die Pharisäer freimachen kann? Und nichtsdestotrotz wurde Buber von Nietzsche beeinflusst. Und wenn es jemals einen Übermenschen gegeben hat, der die Grenzen der Konventionen überschritten und bestehende Regeln gebrochen hat, um seine Vision zu verwirklichen, dann war es Theodor Herzl. Er agierte, und er litt, und er gewann – er hat das Unmögliche möglich gemacht. In welchem Ausmaß war er von Nietzsche beeinflusst? Wenn er es war, dann schulden wir dem deutschen Philosophen viel. Die Sache ist die: Ist unsere Reaktion reumütigen Deutschen gegenüber und unsere Beziehung zu einem Deutschland, dessen Volk nicht weiß, wie es seine Rechten und seine Linken unterscheiden soll, ein Maßstab für unseren eigenen Gehorsam gegenüber rationaler Religion und göttlicher Herrschaft? Können wir es ablehnen, nach Ninive zu gehen?

Hass zerstört selbst diejenigen, die hassen

Unser romantische Hass könnte sich nach innen kehren, (und er hat es schon getan) und den Körper des jüdischen Volkes zerreißen. Schon immer hat mich der Midrasch – rabbinische(r) Kommentar oder Geschichte – entsetzt, der den Grund für das Martyrium unserer zehn großen Gelehrten unter Hadrian erzählt. Der Verkauf eines anderen Juden als Sklaven wird durch den Tod bestraft. Joseph wurde von seinen zehn Brüdern als Sklave verkauft, das Verbrechen wurde niemals gesühnt, und der Ankläger im Himmel bestand darauf, dass dies Jahrtausende später geschehen sollte. Soweit der Midrasch. Gab das den Juden eine wirkliche Erklärung, weshalb Gott das Verbrechen Hadrians stillschweigend hingenommen hat? Wie lange sollte Schuld aufrechterhalten und die Sünde an den Kindern gerächt werden? Wenn dies die allgemeine Meinung widerspiegelt, sollte es sie widerspiegeln?

In unserer eigenen Zeit haben wir den Antagonismus zwischen den Juden aus dem Osten und den deutschen Juden gesehen, wegen der Sünden oder der vermeintlichen Sünden der deutschen Juden. Ihre Kinder mussten bezahlen. Ich kann aus Erfahrung sprechen; es hat mein Leben beeinflusst, denn ich kann meine Eltern nicht verleugnen. Sie waren tief religiös und liebten alle ihre jüdischen Brüder. Falls manche Juden “nicht gut” waren, sollten ihre Kinder deshalb leiden? Auf diese Weise wurden die deutschen Juden in die Isolation getrieben. Wir werden niemals wissen, wie viel Ressourcen den amerikanischen Juden verloren gegangen sind, weil sie es versäumt haben, sich dieses immense Reservoir an Judentum zunutze zu machen. Als ich in Israel war, hat es geheißen, dass einer der Oberrabbiner es zunächst abgelehnt hatte, Gedenkkerzen für die im Holocaust ermordeten Juden anzuzünden. Als er gedrängt wurde, hat er seine Entscheidung rückgängig gemacht, obwohl er am Anfang behauptet hatte, dass diese Juden des Gedenkens unwürdig seien. Diese Geschichte mag ganz und gar unwahr sein, aber die Tatsache, dass sie erzählt wird, ist aufschlussreich. Mythos enthüllt Ideologie.

 

Hass und Liebe sind untrennbar, das eine zerstört gänzlich, das andere heilt gänzlich. Meine Frage lautet: Können wir, unter dem Wort Gottes stehend, alle Deutschen und ihre Kinder und Kindeskinder ablehnen? Können wir so etwas tun, ohne uns selbst in Hass zu vernichten? Ist unsere Beziehung zu den Deutschen eine Art Hiob-Prüfung für sie und für uns? Ich weiß keine Antwort. Vielleicht kann mir jemand helfen, eine zu finden.

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