Leben in einer fremden Welt
Nach einem Jahr in London wandert Trepp in die Vereinigten Staaten aus. Unterstützt werden er und Miriam von HIAS, einer Flüchtlingsorganisation, die ursprünglich für die zahlreichen russischen Juden etabliert worden war, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts vor dem Hass gegen sie aus ihrer Heimat flohen. Trepp ist dankbar für die Hilfe, die ihnen von der jüdischen Gemeinschaft gewährt wird. Mehr als alle anderen beeindruckt ihn Rabbiner Joshua Liebman, den er bald nach seiner Ankunft trifft, und bei dem er neben der Hilfe echte Empathie findet. Er übernimmt das Rabbinat in der orthodoxen Synagoge in Greenfield im Bundesstaat Massachusetts, an der Ostküste, etwa hundertfünfzig Kilometer von Boston entfernt gelegen. Seine Gemeinde ist orthodox, politisch aber liberal. In der Stadt arbeiten Juden und Christen zusammen, um den Armen zu helfen und gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeit zu kämpfen.
Trepp unterstützt den christlich-jüdischen Dialog von Beginn an und sorgt dafür, dass der Gottesdienst, den einmal im Jahr alle gemeinsam feiern, zum ersten Mal in der Synagoge stattfindet. So hält er schon einige Monate nach seiner Ankunft eine Predigt vor Hunderten von Juden und Christen. Innerhalb weniger Wochen ist er Mitglied des Geistlichenklubs. Bald predigt er auch in Kirchen. Als einem neuen Geistlichen, einem schwarzen Protestanten, nahegelegt wird, sich ein Haus außerhalb des Stadtkerns zu suchen, annoncieren alle zusammen, katholische und protestantische Priester und Pfarrer und der Rabbiner, eine ganzseitige Zeitungsanzeige. „Wie wir alle hat er das Recht, dort zu wohnen, wo er wohnen möchte.“ Sie haben Erfolg.
Die Menschen mögen Trepps Predigten, bald bekommt er im regionalen Radiosender ein eigenes Programm und fühlt sich, zum ersten Mal nach langer Zeit, geliebt und integriert. Doch Miriam und er können kaum von seinem geringen Gehalt leben. Seine Gemeinde muss sparen, und statt der üblichen zweitausendfünfhundert zahlt sie ihm tausendfünfhundert Dollar im Jahr. Sie sparen, wo es nur geht. Neben der Sorge um die eigene Existenz gehen die Gedanken unentwegt zu seinen Lieben in der ‚geraubten Heimat’, wie er Deutschland nun nennt. Ihn quält „eine fürchterliche Angst“ um seine Eltern, wie er später erzählen wird. Er macht mehrere Anläufe, sie in die Staaten zu holen. Doch auch wenn seine Gemeindemitglieder ihm praktische Unterstützung anbieten, ist sein Gehalt nicht annähernd genug, um auch nur den Grundstock für die Garantiesumme aufzubringen. Miriams Tanten haben für ihn und Miriam mit einer Million Dollar gebürgt. Nie und nimmer wird er diese Summe zusammenbringen können. Und die beiden alten Damen haben bereits signalisiert, dass auch sie nicht noch einmal eine hohe Summe aufbringen können.
Gotteszweifel kommen ihm dennoch nie. Sein Schicksal und später das der Schoahopfer auch nur in irgendeiner Weise als Werk Gottes anzusehen oder es ihm anzulasten, hält er für Blasphemie. Doch er ist unzufrieden in religiöser Hinsicht. Er trifft in den Staaten auf ein vollkommen anderes Judentum, als er es aus Deutschland kennt. Die amerikanisch-jüdische Gesellschaft verwirrt ihn nicht nur, sondern beunruhigt ihn. Die einzelnen Richtungen liefern sich einen heftigen Wettbewerb, es gibt tiefe Gräben zwischen den Juden. Nicht einmal für die pragmatische Arbeit vor Ort lässt sich eine Einheit herstellen. Zudem scheinen die meisten ihr Judentum außerhalb der Synagoge nicht zu leben, während Trepp es gewohnt gewesen war, dass es in jede Facette des privaten und gemeinschaftlichen Lebens hineinreichte, dass sein Judentum der Maßstab all seines Tuns war. Er kann sich mit keiner religiösen Richtung wirklich anfreunden.
Gottesbild nach Auschwitz
Es sei der Mensch, der die Fähigkeit habe zu sündigen und Böses zu tun, und die Freiheit, sich dafür oder dagegen zu entscheiden, schreibt Leo Trepp in seinem Buch ‚Die Juden’. Für ihn ist es Blasphemie, die Schoah theologisch erklären zu wollen.
Die Orthodoxie sieht aus seiner Sicht noch aus wie vor der Aufklärung. Er findet die Gottesdienste unästhetisch und langweilig. Das Judentum der Gemeindemitglieder hat mit ihrem Alltagsleben wenig zu tun. Doch genauso wenig kann Trepp mit den Liberalen anfangen, die sich zwar sozialer Probleme der Gesellschaft annehmen, sich dabei aber nicht mit dem Judentum im Sinne einer verpflichtenden Religion auseinandersetzen.
Leo Trepp hielt den eingeschlagenen Weg von Hirschs’ Tora Im Derech Eretz für den idealen Weg, den Juden in der Diaspora gehen sollten. Ihn schmerzte es, dass viele Reformjuden in den Vereinigten Staaten sich zwar in die Gesellschaft integriert hatten, dafür aber das „Jüdischsein“ für sie kaum noch eine Rolle spielte. Doch genauso schmerzte ihn die Entwicklung des orthodoxen Judentums, in dem auch zu Trepps Zeiten noch oft die von Hirsch’ beschriebenen und kritisierten Zustände herrschten. Besonders den Juden, die nach der Schoah nach Deutschland gekommen waren, versuchte Trepp zu vermitteln, dass das Judentum im Alltag gelebt werden muss, und dass Hirsch selbst heute wahrscheinlich nicht mehr dort stehen geblieben wäre, wo er vor über 150 Jahren Halt gemacht hatte.
Trepp sucht nach neuen Wegen und knüpft nicht nur an die Neo-Orthodoxie seiner Heimat an, sondern setzt sich mit einer neuen Bewegung auseinander, dem Rekonstruktionismus. Deren Gründer, Rabbiner Mordecai Kaplan, sieht das Judentum als Zivilisation, deren Kern die Religion ist, die aber auch Elemente wie Land, Sprache, Kunst, Musik einbezieht und die sich ständig weiterentwickelt. Trepp interessiert der Ansatz, auch wenn er viele der Ideen ablehnt. Er freundet sich eng mit Kaplan an. Über Jahrzehnte führen sie einen Briefwechsel, in dem sie religiöse und philosophische Fragen diskutieren.
Trepp beginnt als Redakteur für den ‚Reconstructionist’ zu schreiben, dem Magazin, das Kaplans Bewegung herausgibt, und das in diesen Jahren Plattform für religiöse und philosophische Diskussionen auf hohem intellektuellen Niveau ist.
Mordecai Kaplan und der Rekonstruktionismus
Mordecai Kaplan ist bis heute wichtig im jüdischen Leben der Vereinigten Staaten, weil seine Ideen nicht nur den Rekonstruktionismus begründet, sondern auch die anderen Strömungen im Judentum beeinflusst haben. Kaplan, der 1881 geboren und orthodox erzogen wurde, wollte zunächst die Orthodoxie selbst modernisieren.
Nach einigen Jahren nimmt der junge Rabbiner das Angebot für eine besser bezahlte Stellung in Newport News in Virginia an. Unter den vierzigtausend Bürgern gibt es 1600 Juden, von denen viele vom Einzelhandel leben. Virginia gehört zu den Südstaaten, die Rassentrennung ist allgemein akzeptiert. Wenn auch zwanzig Jahre später drei Viertel der Anwälte für die schwarzen Bürgerrechtler Juden sein werden, nehmen die meisten Juden im Süden der USA die Diskriminierung der Schwarzen zu dieser Zeit als gegeben hin.
Die Zusammenarbeit zwischen Schwarzen und Juden in der Bürgerrechtsbewegung
Wenn auch zwanzig Jahre später Dreiviertel der Anwälte für die schwarzen Bürgerrechtler Juden sein werden – in den vierziger und fünfziger Jahren nehmen auch die meisten Juden im Süden der USA die Diskriminierung der Schwarzen als gegeben hin.
Viele haben Angst, selbst Opfer von Diskriminierung zu werden. Immerhin verbieten so manche Einrichtungen den Zutritt von Schwarzen, Juden und Hunden gleichermaßen. Und Händler und Kaufhausbetreiber wollen es sich mit ihren weißen Kunden nicht verderben. Einer erzählt Trepp, dass er eben einen Hut, den ein Schwarzer aufprobiert habe, nicht mehr an einen weißen Kunden verkaufen könne. Trepp, der gerade einer Atmosphäre von hasserfüllten Vorurteilen gegen Juden entkommen ist, kann diese Gemeindemitglieder dennoch nicht verstehen. Bald merkt er selbst, wie schwer es ist, gegen den Strom zu schwimmen. Auch in Newport News spricht er zunächst als regelmäßiger Kommentator im Radio. Doch dann feuert der Sender ihn, nachdem er einige Male darauf hinweist, dass Judentum ein ethisches Leben vorsehe und keine Unterschiede zwischen Menschen mache, egal auf welcher Basis. Ein Vortrag, in dem er 1944 seine Verachtung für die Nationalsozialisten beschreibt, wird in der Tageszeitung kontrovers diskutiert, weil er anfügt, dass die Vereinigten Staaten, die von vielen in Europa als Bastion der Freiheit angesehen würden, ihr eigenes Haus in Ordnung bringen und das Versprechen der Verfassung, das sich auf Bibel und Rechte gründete, endlich für alle Menschen einlösen müssten. Eines Tages soll Miriam in einem Bus aufstehen, weil sie neben einer alten schwarzen Frau sitzt und man ihr sagt, dies könne entweder ein „schwarzer“ oder „weißer Sitz“ sein. Kurz nach dieser Episode verlässt das Ehepaar die Stadt nach nur einem halben Jahr. Die zwei halten es nicht mehr aus.
1944 wird Trepp Rabbiner an einer konservativen Synagoge in Somerville in Massachusetts. Er studiert noch einmal in Harvard und knüpft ein engeres Band mit Joshua Liebman, mit dem er die Jahre über Kontakt gehalten hat, und der ihm nicht nur Lehrstunden an der Boston University vermittelt, sondern veranlasst, dass Trepp in die Rabbinerorganisation aufgenommen wird und ihm bald anbietet, einen Ableger seiner erfolgreichen Reformsynagoge zu übernehmen. Doch dazu soll es nicht mehr kommen. Joshua Liebman stirbt mit nur 41 Jahren. Leo Trepp verliert nicht nur einen Freund, der ihm in seiner Suche nach Religiosität, verbunden mit Moderne, ein Vorbild war, sondern einen wichtigen Mentor.
Joshua Liebman
Joshua Loth Liebman wurde berühmt für sein Buch „Peace of Mind’ das sich über ein Jahr auf der Bestsellerliste der New York Times hielt. In ihm zeigt er, dass Religion und Psychologie zusammenarbeiten können, um innere Konflikte der Menschen zu lösen.